Seelenangst
man in den Augen jener, bei denen man Zuflucht sucht, dann genau das sieht, vor dem man geflohen ist?
»Na ja«, sagte sie, »man setzt sich nicht abends hin und sagt ›Schatz, ich habe heute einen faszinierenden Lustmörder gefasst, der die Leichen im Keller in Plastiksäcke verschweißt hat. Da würden sie wahrscheinlich noch heute liegen, wenn sie durch die Verwesungsgase nicht aufgeplatzt wären. Das möchte ich jetzt mit dir teilen, lieber Freund, Partner, Verwandter oder Geliebter. Denn indem wir diesen Schrecken teilen, schaffen wir ihn irgendwie aus der Welt.‹ Das wäre keine gute Idee, nicht wahr?«
Freese zuckte die Schultern.
»Wenn man das Grauen zu sehr ins Private lässt«, fuhr Clara fort, »hilft das überhaupt nicht. Im Gegenteil.« Sie umfasste den Becher mit beiden Händen. »Man reißt die letzte Bastion des Friedens ein und sieht selbst in den Gesichtern seiner besten Freunde Menschen, die einen an das Grauen erinnern. Weil man ihre Gesichter gesehen hat, als man ihnen von dem Grauen erzählt hat.« Sie rührte in dem Kaffee. »Einige Dinge darf man nicht zu weit von sich weglassen. Sie sind wie Sprengkörper, deren Reichweite man verringern muss. Wenn man sein Umfeld damit verpestet, vernichtet man am Ende sich selbst.«
»Ist es eine Art Selbstschutz?«, fragte Freese.
»Ich nenne es meinen Nichtangriffspakt mit dem Wahnsinn.«
Freese kaute an dem Plastiklöffel. »Wahrscheinlich ist es so schon schwer genug, das alles in der Freizeit auszublenden, nicht wahr?« Er blickte sie an.
Er ist doch nicht so blöd, unser Medienexperte, dachte Clara. »Ja, das stimmt. Wenn mir eine Freundin erzählt, dass ihre kleine Tochter vom Fahrrad gefallen ist und sich das Knie aufgeschlagen hat, dann sehe ich das Kind automatisch auf dem Obduktionstisch, tot. Ich kann nicht anders. Obwohl das Kind noch lebt, gesund ist und sofort wieder aufs Fahrrad steigen wird. Diese Bilder sind augenblicklich da, und ich kann sie nur loswerden, indem ich meinen Job so gut mache wie möglich. Und dafür brauche ich das Adrenalin.« Sie zeigte auf ihr Herz. »Ich muss hellwach sein für all die Schrecken, die da kommen. Ich habe Mitleid mit den Opfern, ich schaue jedem Toten ins Gesicht und schließe ihm die Augen, damit er in Frieden ruhen kann.« Sie knüllte die Serviette zusammen. »Trotzdem ist Mitleid nicht genug. Wir sind Jäger. Seelenjäger. Wir schauen in die Seelen der Killer, und wenn wir sie gut genug verstanden haben, können wir sie fassen.«
Sie trank von ihrem Kaffee. »Aber wir dürfen die Vorsicht nicht aufgeben. Wenn wir solche Leute zu sehr ins Private ziehen, machen wir sie zu etwas Profanem. Dann nehmen wir sie nicht mehr ernst und verlieren den Respekt. Und das Adrenalin. Und dann werden wir sie nie mehr fangen. Weil wir dann keine Jäger mehr sind.«
Sie blickten beide eine Weile stumm zu Boden.
»Ich habe mich ein bisschen in die Thematik eingelesen«, sagte Freese schließlich. »Die meisten Serienmörder können sich hervorragend anpassen, nicht wahr? Ich habe gelesen, dass man meist nicht erkennt, dass sie Mörder sind.« Er machte eine Pause. »Ed Kemper hat in den Siebzigerjahren in den USA seine eigene Mutter und mehr als zehn weitere Frauen getötet. Es waren Anhalterinnen, die er mitnahm und tötete. Damit die Frauen überhaupt erst zu ihm einstiegen, machte er einen gehetzten Eindruck, als hätte er es eilig und als würde es ihm den ganzen Zeitplan durcheinanderbringen, wenn er die Frauen mitnahm. Die Frauen dachten natürlich, dass jemand, der es als Belastung empfindet, sie mitzunehmen, ihnen mit Sicherheit nichts tun wird.«
Clara verzog die Lippen zu einem sarkastischen Lächeln. »Spätestens als ihre Köpfe an der Wand in Kempers Keller hingen, hätten die Frauen gewusst, dass sie falsch gelegen haben. Es gibt dazu einen netten Vergleich. Dort, wo ich wohne, an der Schönhauser Allee, kommt auf Höhe der Choriner Straße die U-Bahn aus dem Boden hervorgeschossen, fährt ein paar Hundert Meter auf einem Schienengerüst über der Erde und verschwindet dann wieder im Untergrund.«
»So wie der Mörder?«, fragte Freese.
Clara nickte. »Der Mörder hört nicht auf, ein Mörder zu sein, auch wenn er gerade nicht mordet. Aber nur, wenn man ihn sieht, wenn er in Aktion tritt, wenn er mordet, kann man ihn wirklich sehen. So wie die U-Bahn, die ebenfalls die ganze Zeit da ist.«
»Wer den Künstler verstehen will, muss sich das Bild anschauen«, sagte Freese. »Hat mal irgendwer
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