Seelenangst
heilt.
Jedenfalls war es bis heute so gewesen. Konnte man auf irgendeine Weise bewirken, dass die Rückenmarkzellen sich teilten und dabei Schienen und Brücken zwischen den einzelnen Zellen bildeten, könnte man die zerstörte Verbindung wieder herstellen, was bedeuten würde, dass beispielsweise Querschnittsgelähmte wieder laufen und sich bewegen konnten wie vor ihrem Unfall, als das Schicksal mit grausamer Wucht zugeschlagen hatte.
Und neuronale Stammzellen waren imstande, dieses Wunder zu bewirken. Man konnte sie gewissermaßen als Schienen für das Rückenmark benutzen, damit sich dort neue Verbindungen aufbauten. Aber einfach war das nicht. Nicht nur aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht – es ging schon damit los, dass einige Länder der Ansicht waren, Stammzellenforschung sei ethisch nicht korrekt. Bei diesem Gedanken schüttelte Venturas den Kopf. Als wenn es korrekt wäre, Querschnittsgelähmte achselzuckend im Rollstuhl verfaulen zu lassen.
Doch bisher war es unmöglich gewesen, Stammzellen jenseits der Labore, außerhalb von Petrischalen in einen menschlichen Körper zu verpflanzen. Denn das Labor und die Petrischalen bildeten eine perfekte Umgebung, ein Organismus jedoch nicht.
Vor einiger Zeit aber war es gelungen, Ratten Stammzellen ins Rückenmark zu verpflanzen. Exemplare, die zuvor ihre Hinterbeine nicht mehr hatten bewegen können, vermochten dies auf einmal wieder.
Aber ein solches medizinisches Wunder auch beim Menschen zu vollbringen, war bisher nicht gelungen. Deshalb waren sie bereit, fast jeden Preis zu zahlen. Hunderttausende, ja Millionen Euros oder Dollars, Pfund oder Schweizer Franken, Yen oder Renminbi.
Christopher Reeves, der verstorbene ehemalige Hauptdarsteller in den Superman -Filmen der Achtzigerjahre, der nach einem Sturz vom Pferd querschnittsgelähmt gewesen war, hatte Millionen für Forschungen auf diesem Gebiet gespendet. Doch erfolgreich war noch niemand gewesen. Vermutlich lag es daran, dass die anderen Pharma- und Biotechkonzerne nicht das Know-how von International Cell Laboratories besaßen. Und wahrscheinlich hatten sie auch nicht die Topmediziner, die Venturas aus aller Welt akquiriert hatte und die in dem teils unterirdischen Labor am Stadtrand von Zürich mit den Zellkulturen arbeiteten – Material, das aus den entlegensten Winkeln der Erde per Privatjet nach Zürich geflogen wurde.
Und ganz sicher hatte die Konkurrenz niemanden wie Isabel Venturas, die mit geradezu missionarischem Eifer ihre Sache vertrat.
Wenn die Natur den Menschen quälen will, ging es ihr durch den Kopf, muss der Mensch sich wehren und versuchen, das Unmögliche möglich zu machen, und zwar mit den Waffen der Wissenschaft.
Es gibt allerdings Ausnahmen, fügte sie in Gedanken hinzu und lächelte, wobei sie sich behutsam über den schwangeren Leib strich. Dann klappte sie das Laptop zu und ließ den Blick versonnen über die zerklüfteten, schneebedeckten Berggipfel schweifen, die am Fenster der Limousine vorbeizogen, während sie sanft durch die Kurven glitt.
Das Kind, das Isabel erwartete, war der einzige Luxus, den sie sich gönnte. Eine Abtreibung stand diesmal nicht zur Diskussion. Sie hatte schon einmal abgetrieben, als ein Kind nicht in ihre Karriereplanung gepasst hatte. Und eine Leihmutter kam für sie ebenfalls nicht infrage, auch wenn sie die 80 000 Euro, die der Spaß kosten würde, aus der Portokasse hätte bezahlen können.
Nein, diesmal würde es anders sein. Die Privatklinik in St. Moritz, zu der sie nun unterwegs war, war eine der besten weltweit. Dort wurde alles geboten, was sie sich wünschte: Internet, Fax, Satellitentelefon. Und die Nannys standen schon bereit, sich um das Kind zu kümmern, sodass Isabel bereits kurz nach der Entbindung wieder ins Geschäft einsteigen konnte.
Ein Geschäft, bei dem das, was die Allgemeinheit wusste, nur die Spitze des Eisberges war.
Heute fuhr sie am Fuß der Berge vorbei.
Doch schon bald würde sie ihren persönlichen Gipfel erklimmen.
4
»Trinken wir einen Kaffee?«, fragte Freese. »Sie müssen ja ohnehin warten, bis das MEK so weit ist. Dann könnten Sie mir bei der Gelegenheit etwas über Ihre Arbeit erzählen.«
Auf Claras Stirn bildete sich eine steile Falte. »Ich weiß nicht, ob wir jetzt Zeit dafür haben.«
»Es würde Bellmann bestimmt gefallen. Schließlich soll ich Sie bei dem Fall unterstützten. Und das geht nur, wenn ich in etwa weiß, was Sie machen.«
Clara schaute auf die Uhr. Der
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