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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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Ihre Knöchel waren blutig, ihre Fingernägel abgebrochen. Ihr Haar hing ihr in filzigen, erbärmlich dünnen Strähnen ins Gesicht, denn sie hatte sich ganze Büschel davon ausgerissen und sie teilweise gegessen, zusammen mit dem Kalk und der Erde des Brunnenschachtes. So was kam vor, wenn man tagelang nichts zu essen bekam. Einiges hatte sie wieder hervorgewürgt. Reste von braun-grünem Erbrochenen und Haare, mit Sand durchsetzt, waren ihre Brust heruntergeronnen und tropften träge zu Boden.
    Der Mann mit der schwarzen Brille und dem grausamen Mund stand am Ende des Brunnenschachts neben zwei anderen Männern. Der eine hielt eine Axt, der andere eine Peitsche.
    Während die Frau die letzten Sprossen der Strickleiter hinaufkletterte und den Mann mit der schwarzen Brille wie hypnotisiert anstarrte, sagte er leise:
    »Laufe mit mir durch die endlose Zeit.
    Ich zeige dir Dinge, die du niemals gesehen,
    Erzähle dir Dinge, die du niemals gehört.«
    Er nahm den Kopf der Frau in beide Hände, als wollte er sie küssen oder segnen. Sie war nun fast oben, die Augen vor Erstaunen aufgerissen.
    War sie frei?
    Der Mann fuhr fort:
    »Sieh die Weisheit einer Welt, die längst vergangen ist.
    Und trete in ein Leben ein, das noch geboren wird.«
    Die Frau kletterte aus dem Schacht. Einer der anderen Männer brachte einen silbernen Kelch mit einer rotbraunen Flüssigkeit. Der mit Sonnenbrille nahm den Kelch und setzte ihn der Frau an die Lippen.
    » Sieh, was ich sehe,
    Und was die Zukunft sein wird.
    Vergiss alles, was jemals war.
    Du musst sterben in uns,
    Um wieder zu leben.
    In den Nebeln der Zeit,
    Tot, aber träumend.«
    Die Frau nahm den Kelch.
    Blickte den Mann mit dankbaren Augen an.
    Und trank.

3
    Die schwarze Luxuslimousine schlängelte sich nahezu lautlos über die Serpentinen der Schweizer Alpen. Der Fahrer konzentrierte sich ganz auf die Straße und sagte nur etwas, wenn er gefragt wurde. Auch das Autoradio schwieg. Es war still – ganz so, wie die Frau im Fond es mochte.
    Isabel Venturas, 42, Chefin von International Cell Laboratories, dunkelhaarig, elegant gekleidet und unbestreitbar attraktiv, hatte soeben ein Gespräch auf ihrem Mobiltelefon beendet, während sie ihren Laptop auf den ausklappbaren Tisch des Vordersitzes gestellt hatte und ihr Blick über eine Tabelle aus Zahlen, Namen und Orten flog. Es waren Kunden, denen sie helfen wollte und die gut dafür zahlen würden.
    Venturas kam von einer Investorenkonferenz, wo sie versucht hatte, zusätzliches Kapital für die International Cell Laboratories einzuwerben. Die potentiellen Investoren – die meisten aus London, den USA und Asien – hatten ihr aufmerksam zugehört und weitere Informationen angefordert. Und dabei hatten sie gar nicht alles erfahren. Das sollten sie auch nicht, denn ihr Kapital würde nur in jenen Bereich des Unternehmens fließen, der sich mit Stammzellenforschung befasste. Den anderen Bereich hatte Venturas gar nicht erwähnt, und sie hatte gute Gründe dafür.
    Die International Cell Laboratories hatte ihren Sitz in Zürich und an unterschiedlichen Orten im Mittleren Osten. Das Unternehmen betrieb Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf dem Gebiet der neuronalen Stammzellen. Stammzellen konnten wahre Wunder vollbringen, und für Wunder wurde viel Geld bezahlt. Das wusste kaum jemand besser als Isabel Venturas.
    Wenn Journalisten sie fragten, was die International Cell Laboratories eigentlich machte, brachte sie gerne die Geschichte von Prometheus, dem Titanen, zur Sprache, der den Menschen das Feuer brachte und den Zeus zur Strafe an einen Felsen im Kaukasus gekettet hatte. Tag für Tag erschien ein Adler und fraß seine Leber, und Tag für Tag bildete sie sich neu – was theoretisch auch in der Realität funktionieren würde, fügte Isabel Venturas jedes Mal hinzu, dank der Forschungen von Unternehmen wie dem ihren. Doch es gäbe auch Körperzellen, die sich nicht regenerierten wie die Leber oder die Haut, und zwar die Nervenzellen. Und genau auf diesem Gebiet, erklärte sie dann selbstbewusst, seien die Forschungsarbeiten der International Cell Laboratories zukunftsweisend.
    Wenn ein Mensch sich die Wirbelsäule brach und das Rückenmark verletzte, war er in den meisten Fällen querschnittsgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt, da keine Signale mehr vom Gehirn über das Rückenmark an den Rest des Körpers gesandt werden konnten. Denn Nervenzellen galten als sogenanntes Dauergewebe, das sich nicht teilt und daher nicht

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