Seelenangst
Zentralrechner des BKA war von MacDeath mit dem Täterprofil gefüttert worden, hatte bis jetzt aber noch nichts ausgespuckt. Außerdem mussten sie ohnehin auf die Einwilligung des Bereitschaftsrichters warten, bevor sie in Sachen Mandy Weiss zur Tat schreiten konnten.
»Also gut, warum nicht«, sagte Clara schließlich. »Ich könnte sowieso einen Kaffee gebrauchen.«
Die Kantine des LKA im Erdgeschoss verströmte den spröden Charme der Fünfzigerjahre, obwohl das Gebäude viel jünger war. Aber es gab offenbar eine Art Behördengeist, der alles, was im Auftrag des Staates unterwegs war, gleich aussehen ließ. Graues Linoleum bedeckte den Boden wie eine riesige Pfütze Spülwasser, während draußen der Regen gegen die Scheiben trommelte.
Sie setzen sich an einen der Tische in der Nähe des Förderbandes, mit dem das schmutzige Geschirr in die Küche transportiert wurde. Die Kantine war leer. Nur an einem Tisch ein kleines Stück entfernt unterhielten sich zwei Kollegen von der Sitte.
»Wir müssen am Ende wissen, wer es getan hat«, sagte Clara, als beide an ihrem Kaffee nippten. »Und um das herauszufinden, müssen wir wissen, was sich zugetragen hat. War es ein Mord? Oder war es nur die Anwendung von Gewalt, aus der dann ein Mord wurde? Geschah es im Affekt? War der Mord beabsichtigt, oder war es ein Unfall? Oder haben wir es mit einem Täter zu tun, dem ein Mord Befriedigung verschafft? Warum fand alles genau so statt, wie es stattgefunden hat? Warum gab es eine Vergewaltigung nach Eintritt des Todes, nicht aber davor? Warum wurden keine Wertsachen mitgenommen? Warum wurde die Tür nicht aufgebrochen? Weil sie schon offen war?«
»Oder weil das Opfer den Täter kannte.«
Clara nickte. »Das ist sehr oft der Fall. Kennen Sie die Fernsehkrimis mit den Rechtsmedizinern?«
»Ein paar schon.«
»In diesen Krimis werden die Angehörigen oft in die Rechtsmedizin gebeten, um einen Toten zu identifizieren. In der Wirklichkeit findet so etwas nie statt.«
»Warum nicht?«
»Die Rechtsmedizin ist weit genug fortgeschritten, dass man einen Toten auch so identifizieren kann. Anhand von Zahnstatus und DNA kann man fast alles feststellen. Deshalb braucht man die Angehörigen nicht. Aber es gibt noch einen weiteren Grund.« Clara trank von ihrem Kaffee und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Decke und der Linoleumfußboden waren so grau und schmutzig wie der Himmel draußen. »Es wäre kontraproduktiv, die Angehörigen den Toten identifizieren zu lassen.«
»Wieso?«, fragte Freese.
»Weil statistisch gesehen die meisten Menschen von ihren Angehörigen ermordet werden.«
Freese hob die Augenbrauen. »Sie könnten also versucht sein, nicht die Wahrheit zu sagen.«
»Schön ausgedrückt«, sagte Clara. »Ja. Könnten sie.«
Freese nippte vorsichtig an seinem Kaffee und zog die Lippen zurück. Er wusste offenbar noch nicht, dass der Kaffee in der Kantine des LKA das Heißeste war, was man sich vorstellen konnte und seltsamerweise nur sehr langsam abkühlte.
»Und wie ist das bei Ihnen?«, fragte Freese. »Was erfahren Ihre Angehörigen über Ihren Beruf? Erfahren die überhaupt etwas?«
Clara schaute ihn an. In seinen Augen sah sie, dass von seiner Seite echtes Interesse an ihr vorhanden war. Für ihn war es nicht nur eine Art Kennenlerngespräch, das er abhaken musste, um auf der Karriereleiter bei Bellmann weiter nach oben zu kommen.
»Ehrlich gesagt sollte man nicht allzu viel davon in sein Privatleben holen«, erwiderte Clara und schaute mehreren Beamten der Spurensicherung nach, die sich gerade jeder einen Kaffee zum Mitnehmen geholt hatten und laut redend und lachend die Kantine verließen. »Denn wenn Freunde und Verwandte alles wissen, was man selbst weiß, gibt es keinen Ort mehr ohne Schrecken, Tod und Mörder.«
»Dann erzählen Sie nichts von dem, was Sie in Ihrem Beruf zu sehen bekommen?«
Clara zuckte die Schultern. Leuten, die sie kaum kannte, konnte sie fast alles erzählen. So wie dem Priester bei der Beichte, die sie jedes Jahr am Todestag ihrer Schwester Claudia ablegte. Manche sagten, man müsse Leuten, die einen gut kennen, alles erzählen. Aber das, was man unbedingt erzählen muss, um sein Herz und seine Seele von einer Last zu befreien, war meist nichts Angenehmes. Und warum sollte man diese Last bei den Menschen abladen, die einen lieben und damit die Gefahr heraufbeschwören, dass der Schrecken auch diese kleinen Inseln des Friedens und der Geborgenheit eroberte? Nur damit
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