Seelenangst
Fenster.
»Kommt ihr mit dem Schlüssel voran?«, fragte sie dann.
Hermann nickte. »Wir haben zehn Nachschlüssel anfertigen lassen. Damit haben wir zehn Beamte losgeschickt, die den Banken auf die Füße treten. Wir dachten erst, es wäre ein Bahnschließfach irgendwo am Bahnhof, aber da sind die Schlüssel alle einheitlich.« Er seufzte. »Wäre ja auch zu einfach gewesen. Jedenfalls, die Sache läuft. Ich werde mich gleich mal an dieses Telefon heranmachen und schauen, ob wir da etwas finden.«
»War das die Information, für die ich Valium gebraucht hätte?«
Hermann lächelte. »Nicht ganz.« Er beugte sich vor. »Schau mal hier.« Er klickte auf einen Videoplayer auf seinem Computer. Ein Bahngleis war zu sehen. Dann eine schwarze Gestalt, die langsam und wie ferngesteuert an dem Gleis entlanglief. Plötzlich war die Gestalt verschwunden. Im selben Moment schoss ein ICE wie eine weiße, riesige Schlange am Gleis vorbei. Er schien die schwarze Gestalt verschluckt zu haben. In Wirklichkeit hatten ihre Körperteile sich über die Schienen verteilt.
Clara hielt die Kaffeetasse mit beiden Händen.
»Ist das aus Spandau?«, fragte sie.
Hermann nickte. »Hat uns die Bahn gerade geschickt. Gestern um 15.30 Uhr, Gleis drei. Steht jetzt auch in einigen Zeitungen.«
»Ich weiß.« Clara seufzte. Freese hatte mit Bellmann dafür gesorgt, dass das Ganze nur als »gewöhnlicher« Suizid auf den Seiten vier und fünf der lokalen Revolverblätter erschienen war. Keine Hinweise auf irgendwelche Schlüssel im Magen oder auf »Legion«-Tätowierungen. Das hätte auch gerade noch gefehlt.
»Und jetzt brauchst du Valium«, sagte Hermann.
Er spulte den Film zurück und zoomte auf den hinteren Teil des Bahnsteigs. In diesem Moment hätte Clara beinahe die Kaffeetasse fallen lassen. Dort, zwischen einem Raucherbereich und einem Kiosk, stand wieder eine schwarze Gestalt, eine dunkle Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die Gestalt hob die rechte Hand und führte die Handfläche an die Augen. Im selben Moment fuhr der ICE in den Bahnhof ein.
Der ICE, der Hendrik verschluckt hatte.
Clara wurde schwarz vor Augen.
16
»Der Drogentest ist durch«, sagte Marquard. Sie hatten die Präparate, die Kremmer ihnen gegeben hatte, in der Karl-Bonhoeffer-Klinik analysieren lassen und Mandys Metabolismus auf Spuren dieser Droge untersucht. Möglicherweise hatte der Auftraggeber irgendwie Zugang zu diesen Drogen gehabt, deren Zusammensetzung in dieser Form heute nicht mehr existierte. Doch Marquards Ergebnisse waren ernüchternd.
»Wir haben nichts gefunden, bis auf die zu Beginn vermuteten Drogen.«
»Also kein Pervitin oder Ähnliches, was diese Bewusstseinswechsel erklären könnten?«, fragte Clara.
»Nichts«, erwiderte Marquard. »Und Methamphetamine auch nur in äußerst geringer Dosis. Jedenfalls nicht genug, um ihren Bewusstseinszustand zu erklären.«
Clara stellte sich gerade das enttäuschte Gesicht Freeses vor, wenn er erfahren würde, dass er mit seinen Drogenvermutungen völlig danebengelegen hatte.
Der Gott des Mordes, dachte Clara. Woher kam dieser unbedingte Gehorsam? Wer konnte so etwas bewirken? Wer konnte Menschen so kontrollieren?
»Und die Probleme werden nicht weniger«, fuhr Marquard fort. »Wir können Mandy nicht mehr allein essen lassen, sondern müssen sie intravenös ernähren.«
Clara zuckte zusammen. »Warum?«
»Es gab wieder einen Suizidversuch.« Marquard machte eine Pause. »Sie hat versucht, ihren Tee einzuatmen.«
Clara sah in der Spiegelung des Fensters, wie ihr die Kinnlade herunterklappte, als hätten ihre Kiefermuskeln sich in Nichts aufgelöst.
Sie hat versucht, ihren Tee einzuatmen …
»Wir haben sie unter Beruhigungsmittel gestellt«, berichtete Marquard weiter. »Ich gehe mal davon aus, dass Sie frühestens morgen mit ihr sprechen können.« Er atmete tief ein. »Falls sie überhaupt etwas sagt.«
»Keine Drogen«, wiederholte Clara, mehr zu sich selbst.
Sie hat versucht, ihren Tee einzuatmen …
»Professor Marquard«, sagte sie, »woher kommt diese unbedingte Loyalität, wenn sie nicht drogeninduziert ist? Woher kommt diese Angst vor dem Gott des Feuers, die so stark ist, dass sie eher den eigenen Tod in Kauf nimmt, als uns irgendetwas zu sagen?«
Clara ahnte, dass die Antwort auf diese Frage bei dem seltsamen Mann mit dem schwarzen Kapuzenpullover zu finden sein könnte, der Mandy durch seine Geste von einer Sekunde auf die andere paralysiert hatte. Doch da sprach Marquard schon
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