Seelenangst
Erfahrung derart extrem, dass die Persönlichkeit des Kindes das nicht aushält.«
»Dann kommt es zur Abspaltung?«, fragte Clara.
MacDeath nickte. »Bis zum fünften Lebensjahr lernt das Gehirn, andere Bereiche zu ersetzen. Man kann sogar eine Gehirnhälfte entfernen, ohne dass es zu Schäden kommt, weil die Arbeit dann alleine von der anderen Hälfte übernommen wird.«
»Und was ist mit denen, die älter als fünf Jahre sind?«
»Zwischen drei und fünf Jahren ist die Ich-Persönlichkeit vollständig entwickelt. Ist das Kind älter als fünf Jahre, wird es wahnsinnig und endet in einer geschlossenen Anstalt.«
»Gibt es typische Konditionierungen, die immer wieder vorkommen?«
»Ja. Es gibt ein paar … sagen wir, Klassiker. Ein Kind wird in eine Kiste gesperrt. Parallel dazu ertönt eine bestimmte Musik. Das Kind erstickt fast und leidet Todesangst. Kurz bevor es erstickt oder vor Angst stirbt, wird es aus der Kiste geholt und gezwungen, ein Tier zu töten.«
»Und dann?«
»Das Kind tötet das Tier aus Angst, sonst wieder in die Kiste gesperrt zu werden. Nachdem man das ein paar Mal wiederholt hat, reicht allein schon das Abspielen der Musik, damit das Kind tut, was man von ihm will. Zum Beispiel ein Tier töten. Die Strafe ist die Angst, wieder in die Kiste zu müssen. Die Belohnung ist die, nicht in die Kiste zu müssen. Das ist die einfache Konditionierung.«
»Das heißt, es gibt auch eine komplizierte Konditionierung?«, fragte Clara.
»Der Begriff lautet ›komplexe Konditionierung‹. Sie läuft so ab, dass das Kind parallel zu einer anderen Melodie in der Kiste gelassen wird, bis sich, aufgrund der traumatischen Erfahrung, eine Persönlichkeit abspaltet. Der abgespaltene Persönlichkeitsanteil erkennt den Täter nicht als den, der das Kind zuvor in die Kiste gesperrt hat, sondern sieht ihn als Retter an. So wird Loyalität erzeugt. Diese Persönlichkeit wird dann für Morde genutzt, für Folterungen, für Rituale oder andere Verbrechen. Oder das Opfer muss auf Sexorgien dieser Sekten als Spielzeug dienen.«
»Kann Mandy eine solche Persönlichkeit sein?«
»Möglich. Nur scheint es leider extrem schwierig zu sein, etwas aus ihr herauszubekommen.«
»Eine Idee, wer uns helfen könnte?«
MacDeath lächelte. »Allerdings. Auch wenn ich befürchte, dass Sie mich für durchgeknallt halten, wenn ich es Ihnen sage.«
Clara erwiderte das Lächeln und zuckte die Schultern. »Sicher nicht mehr als ohnehin schon.« Sie schaute auf die Uhr. »Ich gehe kurz zu Hermann runter. Mal sehen, wie weit er mit Hendrik ist. Und Sie erzählen mir dann, wer der geheimnisvolle Experte ist.«
18
Hermann, einen Stapel Fotos vor sich auf dem Tisch, kaute auf seinen geliebten Gummibärchen. Er war eben erst aus Hendriks Wohnung zurückgekommen und hatte kurz das Büro gelüftet. Die nasse Kälte dieses regnerischen Tages war immer noch zu spüren.
Die Bilder auf dem Tisch zeigten eine völlig demolierte Wohnung. Schränke waren ausgeräumt, der Fernseher zerschmettert, Kommoden umgeworfen. Überall lagen Papier, Kleidung und Unrat auf dem Boden. Inmitten des Chaos war eine große weiße Schlange zu sehen.
»Eine weiße Boa Constrictor«, sagte Hermann, als er Claras verwunderten Blick bemerkte. »Die sind ziemlich selten. Ist aus dem völlig zerstörten Terrarium abgehauen.«
Clara setzte sich neben ihn.
»Sieht aus, als hätte jemand irgendwas gesucht.«
Hermann nickte. »Und ist dann ausgerastet, weil er es nicht gefunden hat.«
»Passiert ja häufiger. Was haben wir da?« Clara zeigte auf eine Tüte, die auf dem Tisch lag. Darin befanden sich das Akkukabel eines Apple-Rechners und Reste eines Monitors.
»Das war ein Laptop«, sagte Hermann. »Ein MacBook Air. Passend zu seinem iPhone. Auch das iPhone war nur noch Schrott, auch wenn es auf den ersten Blick noch heil aussah.« Beide Geräte waren schwarz gewesen.
»Wohl kaum noch zu gebrauchen, oder?«, fragte Clara.
»Die Geräte nicht«, sagte Hermann, »aber es gibt ja so etwas wie iCloud. Schon mal davon gehört?«
»Ist das nicht ein Server außerhalb des Computers?«
»Genau«, sagte Hermann. »Da kann man seine Mails abrufen, seinen Kalender anschauen und Dokumente lagern. Und man kann seine Einträge auf sämtlichen Geräten synchronisieren. Gibt es nicht nur von Apple.«
»Und?«
»Ich habe mal bei dem Telefon-Provider die Daten von Hendrik angefordert. Die SIM-Card steckte ja noch im Handy. Damit kannten wir das iCloud-Account und konnten
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