Seelenangst
weiter.
»Ich könnte es Ihnen ja erklären, nur ich glaube nicht daran, dass es in dieser Dimension so gut funktionieren kann«, sagte er, »doch ein geschätzter Kollege von Ihnen kann das sicher noch besser. Soweit ich weiß, war Konditionierung und Programmierung das Thema seiner Dissertation an der Universität von Virginia.«
»Sie meinen MacDeath?«
»Ich nenne ihn immer noch Martin Friedrich«, sagte Marquard. »Aber genau den meine ich.«
17
Clara saß MacDeath gegenüber in dessen Büro. Beide hatten eine dampfende Tasse Earl Grey mit Zitrone vor sich stehen. Clara schwirrte der Kopf. Der Tattoo-Mann, der jetzt den Namen »Hendrik« hatte, schien auch der Träger irgendeines Geheimnisses zu sein. Und während Mandy aufgrund eines Zeichens, das ein unheimlicher Mann im schwarzen Kapuzenpulli gemacht hatte, einfach nur umgekippt war, hatte Hendrik sich vielleicht genau deswegen vor einen Zug geworfen.
Es war eine Fahndung nach dem mysteriösen Kapuzenmann ausgegeben worden, doch auf den Aufnahmen der Kamera war so gut wie nichts zu erkennen.
Wer war dieser Mann, der sich die schwarze Kapuze über den Kopf gezogen hatte und in der Anonymität der Menge verschwunden war? Ein Mann, der imstande war, Menschen dazu zu bringen, stocksteif zu Boden zu fallen oder Selbstmord zu begehen. War so etwas überhaupt möglich? Und war es jedes Mal der gleiche Mann gewesen?
»Konditionierung?«, fragte Clara. »Ist das nicht die Geschichte mit dem Pawlowschen Hund?«
»Exakt«, sagte MacDeath. »Nehmen wir an, der Pawlowsche Hund hört ein akustisches Signal. Er spitzt die Ohren, aber mehr auch nicht. Kombiniert man das akustische Signal jedoch mit der Vergabe von Futter, wird der Hund beim Klang des Signals irgendwann Speichel absondern. Das nennt man eine konditionierte Reaktion.«
»So ähnlich wie der Fliegeralarm im Krieg?«, fragte Clara. »Das Geräusch von Sirenen löst bei manchen älteren Menschen immer noch Angst aus, weil sie es mit den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg in Verbindung bringen.«
»So ist es.«
»Auf diese Weise kann man Menschen konditionieren und für bestimmte Zwecke einsetzen?«
MacDeath nickte. »Das geht so weit, dass man Menschen regelrecht programmieren kann. Wenn zum Beispiel Kind A regelmäßig von Kind B verprügelt wird, bekommt es schon Angst, wenn es Kind B nur sieht. Wird es aber nicht verprügelt, wenn Kind C dabei ist, reicht schon die Anwesenheit von Kind C, um bei Kind A ein Gefühl der Sicherheit hervorzurufen.« Er fuhr mit den Fingern durch eines der Bücher auf seinem Schreibtisch. »Das nennt man Programmierung. Man legt den Ablauf fest, wie ein Mensch reagieren soll. Es gibt Drohszenarien, und es gibt Rettungs- oder Erlösungsszenarien. Die Täter bringen die Betroffenen dazu, etwas zu tun. Besonders aus Angst vor Bestrafung, die ansonsten folgen könnte. Wenn die Täter das Opfer richtig programmiert haben, können sie die gewünschte Reaktion auch durch andere Trigger erreichen, die mit dem Bedrohungsszenario nichts zu tun haben.«
»So wie eine Ratte, die bei einem Piepton einen Stromschlag bekommt?«, fragte Clara. »Und die dann bei jedem Piepton in Panik gerät, auch wenn gar kein Strom fließt?«
»Genau so«, sagte MacDeath. »Der Psychiater Frederic Skinner hat allerdings entdeckt, dass die Reaktion von Testratten nicht nur von den vorhergehenden Stimuli abhängig war, sondern vor allem von den Reizen, die erst danach erfolgten. Also von den Konsequenzen.«
»Was könnte das sein?«
»Zum Beispiel eine Belohnung. Das kann man auch beim Menschen anwenden. Man kann Menschen dazu bringen, dass sie Dinge tun, die sie sonst instinktiv ablehnen würden, indem man ihnen immer wieder eine Belohnung in Aussicht stellt, wenn sie bestimmte Schmerzen oder Gefahren auf sich nehmen.«
»Zum Beispiel Franco Gayo eine Schwertklinge durch den Körper zu bohren?«
MacDeath nickte. »Zum Beispiel.«
»Wie nachhaltig sind diese Erfahrungen?«
»Da es schreckliche Erfahrungen sind, sind sie sehr nachhaltig.« Er rückte seine Brille zurecht. »Es gibt zwei Systeme im Gehirn: Die Amygdala und den Hippocampus. Ein Mensch unter traumatischem Stress speichert alle Wahrnehmungen der traumatisierenden Situation – zum Beispiel Bilder, Worte und Geräusche – in der Amygdala ab, dem sogenannten Mandelkern, um in einer ähnlichen Situation dann schneller reagieren zu können, sodass es nicht noch einmal zu Schäden oder Verletzungen kommt. Das bedeutet, dass die
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