Seelenangst
Helter-Skelter-Mörder, sich nicht selbst als den leibhaftigen Satan bezeichnet?
Mandy hingegen war einfach nur verängstigt. Oder wahnsinnig. Oder beides. Aber Satan? Konnte der hier wirklich eine Rolle spielen?
Clara blickte in die Augen Mandys, auf die gepolsterte Zellenwand und die Zwangsjacke, mit der sie die junge Frau fixiert hatten. Sie war noch einmal in die Psychiatrie gefahren. Bonnys Ranch sah aus wie die klassische Irrenanstalt in einem Dr.-Mabuse-Film, aber dies hier war kein Film. Es war die Wirklichkeit. »Friedhof für Lebende« nannte man solche Anstalten, doch sie waren nötig, um andere vor Menschen wie Mandy zu schützen. Und um Menschen wie Mandy vor sich selbst zu schützen. Es sah aus wie in einem Film, aber es war real. Real, weil Mandy sonst wieder versuchen würde, sich umzubringen. Weil ihre Angst größer war als alle Vernunft.
Wieder blickte Clara in Mandys ausdruckslose Augen, die beinahe wie die Augen einer Toten wirkten. Ob sie jemals mit mir sprechen wird? , fragte sich Clara. Mandy war die Täterin, das wusste sie, aber etwas in ihr ahnte auch, dass Mandy es nicht allein gewesen war. Dass es womöglich einen unheimlichen Puppenspieler gab, der Mandy die schlimmsten Dinge angedroht hatte, wenn sie nicht tat, was er von ihr verlangte.
Wenn sie nicht sprechen will, hilft es vielleicht, wenn ich spreche. Empathie. Ja, vielleicht half es, wenn sie Mandy ihre Geschichte erzählte. Wenn sie, Clara, ihr zu verstehen gab, dass auch sie verletzt worden war. Dass auch sie ein Opfer war.
Also erzählte Clara vom Tod ihrer Schwester Claudia und von dem schicksalhaften Tag, an dem sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Von ihrem Versprechen, Claudia von der Musikschule abzuholen. Von der Aufregung ihrer Eltern, als Claudia um 20 Uhr noch immer nicht zu Hause war. Von dem Anruf bei der Polizei und der Auskunft des Beamten, man müsse mindestens 24 Stunden warten, bevor man jemanden als vermisst melden könne. Von den verzweifelten Anrufen bei Freunden und Verwandten, von denen aber niemand Claudia gesehen hatte. Und von der allmählichen, grauenhaften Erkenntnis, dass irgendetwas passiert sein musste – dass Claudia nicht nur verschwunden war und dass sie vielleicht nie mehr wiederkommen würde, sondern dass sie in die Hände einer Bestie gefallen war, in deren Hände niemals ein Mensch geraten sollte.
Dann am nächsten Tag die Suchaktion. Clara erzählte davon, wie ihr Vater immer wieder mit der Polizei telefoniert hatte, weil ihre Mutter es nicht aushielt, und wie die Polizisten ihren Vater immer wieder vertröstet hatten.
Und dann erzählte sie von dem Anruf, der ihr Leben zerstört hatte. Als die Polizei ihrem Vater mitteilte, man habe »etwas gefunden«. Clara hatte nicht alles davon verstanden, aber irgendein bösartiger Instinkt, der es liebte, die grausame Wahrheit mit der Schärfte eines Skalpells zu enthüllen, hatte sie erkennen lassen, dass das Schlimmste eingetreten war, als sie Worte wie »Waldlichtung«, »Plastiksack« und »Zahnstatus« hörte.
Clara überlegte, ob sie Mandy auch erzählen sollte, was danach geschehen war – was sie über den Mörder ihrer Schwester herausgefunden hatte, und was er noch alles mit der Leiche angestellt hatte –, als sie ein Wort hörte. Ein Wort, einen Satz. Aus einem Mund, den sie noch nie hatte sprechen hören.
»Haben Sie Angst vor ihm?«, fragte die Stimme. Es war Mandy, die Clara langsam den Kopf zuwandte. Sie sprach von Angst, und in ihren Augen wohnte die Angst, aber sie sprach.
»Angst vor dem Mörder?«, fragte Clara.
Mandy nickte.
»Nein«, sagte Clara. »Er ist tot.«
»Das ist schön«, sagte Mandy mit einem seltsamen Singsang in der Stimme. »Es ist schön, wenn die Bösen tot sind.« Sie schaute mit halb geschlossenen Augen zur Decke. »Unser Böser ist noch nicht tot. Noch nicht, noch lange nicht … Wir haben Angst.«
»Haben Sie jetzt Angst?«
Sie nickte langsam. »Jetzt haben wir große Angst.«
Unser Böser , hatte Mandy gesagt, und Wir haben Angst .
Clara musste an die Worte von MacDeath denken. Konditionierung. Spalten der Persönlichkeit. Ein Mensch allein kann das nicht aushalten.
»Und damals? Bei den Morden?«
»Die Morde?«, wiederholte Mandy. »Nein. Damals hatten wir keine Angst.« Sie starrte Clara an. Mund und Augen waren das Einzige, das die wie ein Kokon verpackte Mandy noch bewegen konnte. »Wenn du keine Angst hast, bekommen die anderen Angst.«
»Aber vor dem Bösen haben Sie immer
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