Seelenangst
Zwölfjährige gebären. Je eher, desto besser. Und je mehr, desto besser.«
Clara drehte nachdenklich ihr Weinglas in der Hand. Kaum zu glauben, dass von diesen Ungeheuerlichkeiten kaum jemals etwas nach außen drang. »Es muss aber doch mehr passieren als nur gegenseitige Kontrolle. Wie kommt es, dass das alles geheim bleibt? Was passiert zum Beispiel mit den Toten?«
Tomasso lächelte resigniert. »Das bleibt geheim, weil alle zusammenarbeiten. Ein Arzt, der zum Kult gehört, stellt einen Totenschein aus, und fertig.«
Clara seufzte resigniert. Das war in der Tat einfacher, als man denken sollte. Oft reichte ein Totenschein von einem Arzt, und der Leichnam verschwand unter der Erde. Eine Obduktion gab es in den meisten Fällen in Deutschland nicht, anders als in den USA, wo jede Leiche einem amtlichen Leichenbeschauer, einem Coroner, gezeigt werden musste.
»Und der Bestatter«, fuhr Don Tomasso fort, »bestattet einen leeren Sarg.«
Clara stutzte. »Warum ist er leer?«
»Man kann die Leichenteile noch für verschiedene nekromantische Rituale nutzen. Oder …«, Tomasso räusperte sich, »sie werden gegessen. Und dann gibt es noch die armen Seelen, die früher oder später wahnsinnig werden. Meistens werden sie für niedere Arbeiten genutzt. Für Morde, bei denen es nicht so wichtig ist, ob sie auffliegen oder nicht. Oder für Kinderpornographie und Prostitution. Manchmal auch für diese schrecklichen Filme, in denen ein tatsächlicher Mord zu sehen ist.«
»Sie meinen Snuff Movies«, sagte Clara.
Tomasso nickte. »Ja, so heißen sie wohl. Dafür werden bis zu zwanzigtausend Euro gezahlt.«
»Gibt es Mütter, die ihre Kinder in Sicherheit bringen?«
»Ja, aber die Strafen sind drakonisch. Diese Mütter müssen ihre eigenen Kinder quälen. Oder töten. Und wenn sie erneut gegen Gesetze des Ordens verstoßen haben, müssen sie manchmal die Leichen ihrer Kinder wieder ausgraben.« Er zögerte, ehe er hinzufügte: »Und immer wieder ein Stück der Leiche essen.«
»Mein Gott«, flüsterte Clara.
»Hat diese junge Frau, diese Mandy Weiss, an irgendwelchen spirituellen Sitzungen teilgenommen?«, fragte Tomasso.
MacDeath blätterte in den Unterlagen. »Ja, wir haben die Aussagen ihrer Mitbewohner aus der WG in Neukölln. Séancen, Gläserrücken, Pendelspiele. Außerdem wurde sie dazu überredet, ein Kaninchen zu schlachten. In den Innereien, behauptete einer ihrer Freunde, können sie den Weg in eine bessere Zukunft lesen.«
»Eine bessere Zukunft!«, stieß Tomasso verächtlich hervor. »Selbst da wurde diese arme Frau belogen. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.«
Auf Alvaros Stirn hatte sich eine steile Zornesfalte gebildet. »Wir in Italien haben mehr Wahrsager und Hexen als Priester«, murmelte er. »Seelsorge bedeutet heutzutage für viele Menschen, dass man sich die Karten legen lässt oder zum Gläserrücken geht. Und diese furchtbaren Kulte haben regen Zulauf.«
»Ja, das alles ist die Hölle«, sagte Tomasso. »Aber glauben Sie mir, die wirkliche Hölle ist noch schlimmer. Aber darüber kann Don Alvaro Ihnen mehr erzählen.«
27
Die Nacht war hereingebrochen. Tomasso hatte weitere Kerzen in den Zimmerecken angezündet, die den Raum in geisterhaft flackerndes Licht tauchten.
»Die Hölle«, begann Don Alvaro und blickte für einen Moment durchs Fenster auf einen Punkt weit weg am dunkeln Nachthimmel über Rom. Clara sah, wie Don Tomasso seinen Vorgesetzten aufmerksam musterte. »Die Eschatologie ist die Lehre von den vier letzten Dingen«, fuhr Don Alvaro schließlich fort, »Himmel und Hölle, Tod und Jüngstes Gericht. Im alten Testament ist es das Hinnom-Tal in Jerusalem, in dem die Kananiter dem Gott Moloch ihre erstgeborenen Kinder beim Brandopfer darbrachten. Das Tal des Hinnom, das Gey Hinnom, wurde schließlich zu Gehenna, dem arabischen Wort für Hölle. Jesus spricht vom ewigen Feuer und den ewigen Qualen der Hölle, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.«
Clara fröstelte plötzlich und schlang die Arme um den Körper. »Wer ist in der Hölle?«
»Das können wir nicht wissen«, sagte Alvaro. »Es gibt zwei Annahmen, die aber sicher falsch sind: Die eine geht dahin, dass die Hölle leer ist – und das trifft bestimmt nicht zu. Die zweite Annahme ist die, dass wir wissen , wer in der Hölle ist – und auch das ist nicht der Fall. Denn es kann sein, dass ein Mensch in der letzten Sekunde seines Lebens aus tiefstem Herzen bereut und deshalb Vergebung
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