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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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die Zehenspitzen, um zu schauen, was da ein paar Dutzend Köpfe vor ihnen los war. Doch was das auch immer im Einzelnen war – wer jetzt noch in Schlangen anstehen musste, der war von vornherein der Betrogene. Doch in ihren Augen waren nicht nur die Langeweile und die bange Angst der Wartenden zu lesen, sondern auch fiebrige Lebendigkeit, die zeitweilige Befriedigung des Betäubten, des Menschen im Drogenrausch. Emilia hatte ihre größte Tasche, eine Tasche von gewagtem modischen Design, aber großem Fassungsvermögen, mitgenommen. Theo stand an die Marmorsäule neben ihr gelehnt. Über eine Stunde mussten sie warten, bevor sie den Auszahlungsschein bekamen, mit dem sie sich in die Schlange an der Kasse einreihen konnten.
    Beim Blick durch die Fenster auf das feuchte Grau dieses Tages wurde ihr kalt. Die Ausdünstung all dieser klatschnassen Mäntel, die in der Sparkassenhalle ausdünsteten, war ihr zuwider. Und dann all diese gequälten Leute, diese verkappte Angst. Einige der großen Banken waren bereits in Konkurs gegangen und zahlten keine Einlagen mehr aus; das ihnen anvertraute Geld war einfach verschwunden, verteilt an jene Kreditbetrüger, denen gegen eine saftige »Aufwandsentschädigung« für die zeichnungsberechtigten Führungskräfte des betreffenden Bankhauses Geld ohne Sicherheiten »geliehen« wurde. Emilia war angespannt bis kurz vor der Ohnmacht, zumal die Luft im Raum immer schlechter wurde. Theo langweilte sich. Schließlich war sie an der Reihe. Die Kassiererin machte ein Gesicht, als hätte sie gerade auf eine Zitrone gebissen. Sie erkannte Emilia, versuchte ein nicht-saures Lächeln und tat dann etwas Unerhörtes. Sie erklärte sich damit einverstanden, Emilia ihre Ersparnisse in Zwanzig-Leva-Scheinen, den damals höchsten Banknoten, auszuzahlen, dazu noch solchen, die druckfrisch nach Träumen rochen. Emilia strahlte völlig übertrieben, unterschrieb aber brav alle Empfangsquittungen, die die Kassiererin ihr vorlegte, während Theo die Notenbündel akkurat in ihre Tasche stapelte. Sie bekamen sie gerade eben noch zu.
    Als sie wieder draußen in der klammen Kälte waren, bat sie Theo, ganz dicht neben ihr zu stehen, bis sie ein Taxi fanden, auch wenn ein Mann wie er sie wohl kaum vor irgendjemandem verteidigen, geschweige denn ihr die Zweifel, die Unsicherheit und Niedergeschlagenheit nehmen konnte. Der schmutzige Schnee war zu Haufen zusammengeschoben, die Gehwege gefährlich vereist und voller wieder gefrorenem Dreck. Dass es so schwer war, ein Taxi zu bekommen, lag an der Benzinknappheit. Treibstoff wurde gegen Coupons ausgegeben, und vor den Tankstellen standen kilometerlange Blechlawinen. Emilia blickte sich voll Panik um, Theo dackelte mit seinen kurzen Beinen neben ihr her und wiederholte in seiner wiedergewonnenen Geschwätzigkeit, was er ihr schon x-mal gesagt hatte.
    Â»Die sind unglaublich redlich, du wirst sehen, wie liebenswürdig und höflich die ihre Kunden behandeln. Keine Spur mürrisch wie diese Sparkassentanten. Ist schließlich auch ein seriöses Finanzinstitut – Lucky Strike & Co. Ja, heißen genau so wie die guten amerikanischen Zigaretten, ›gelungener Streich‹ auf Bulgarisch, das sagt ja schon alles.« Auch über das »& Co.« hatte sich Theo in entsprechender Fachliteratur kundig gemacht, dem Roman Jahrmarkt der Eitelkeiten von Thackeray, oder war es doch in einem der Romane von Charles Dickens gewesen? Er schaute Emilia zwar prüfend an, wollte ihre Meinung aber gar nicht hören.
    Â»Der Jahreszins, Schwesterherz, beträgt ganze zweiunddreißig Prozent, kannst du dir das vorstellen? Wenn du aber noch sieben Leute findest, die ihr Geld ebenfalls Lucky Strike & Co. anvertrauen, dann steigt der Zinssatz auf vierzig Prozent.« Theos Gesicht wurde leer, seine Stirn zog sich in Falten, er hatte sich ganz in seine Berechnungen zurückgezogen. »Ich bekomme also im ersten Jahr über 30.000 Dollar Zinsen, das macht in fünf Jahren mehr als 150.000 fette grüne Scheine, die gefeit sind vor unserer blöden Inflation. Das ist der Wahnsinn! Bei dieser Demokratie, da bleibt dir die Spucke weg, wie?«
    Sie eilten, als seien sie morsches Holz, das von Theos verbalem Hochwasser mitgerissen wurde, beide getrieben von der Angst, zu spät zu kommen, sich im Labyrinth der Umbruchzeiten zu verlaufen, irregeführt von falschen Wegweisern oder ganz

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