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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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überließ sich einige Morgen lang, wenn sie ins Bad ging, den Tränen, aber wohlweislich immer vor dem Duschen. Da saß sie dann auf dem Eimer für die schmutzige Wäsche, zusammengekauert wie ein Mauerblümchen, mit Krämpfen im Bauch und bleischwerem Kopf. Die Migräne hatte so sicher wieder zu ihr gefunden wie eine ausgesetzte Katze.
    Heute also die Einladung zur Unterredung mit dem neuen Direktor. Am Telefon hatte er sie mit der munteren Stimme eines Sportberichterstatters beschwichtigt:
    Â»Wir werden uns einfach ein bisschen austauschen. Ich möchte Ihren Rat einholen.«
    Emilia fühlte sich beflügelt: Na also, sie wurde ja doch noch gebraucht; man suchte ihren Rat! Den ganzen Tag überlegte sie hin und her, was sie dem Volkstheater vorschlagen sollte, aber ihr fiel nichts Brauchbares ein. Da rief sie Jordan an. Er war im Sender, bereitete gerade sein neues Format Sieben Tage vor und war nicht in Gesprächslaune.
    Â»Das Theater ist leer«, sagte sie.
    Â»Na, dann füllt es doch.«
    Â»Genau darum melde ich mich ja, mein Lieber. Hast du vielleicht eine Ahnung, wie?«
    Jordan war in Eile und verbarg seine Gereiztheit nicht. Nach dem Unfalltod Nedas hatte er sich zunächst von seinem konformistischen Lächeln verabschiedet, das besser zu Lottogewinnern und Versandhauskatalogen passte, und dann auch vom Fernsehen und war Zeitungsredakteur bei den Abendnachrichten geworden. Sein Gehalt war dort zwar nur halb so hoch und die Arbeit doppelt so viel, aber er war endlich er selbst. Als Ende 1989 der politische Umbruch begann, brach die (staatliche) Finanzierung der Zeitung zusammen, und er stand ohne Perspektive und ohne Einkommen auf der Straße. Er hatte wohl einen Schutzengel, denn er konnte wieder beim Fernsehen anfangen. Die Zuschauer hatten ihn nicht vergessen. Sein neues Format war dezidiert politisch, wie eigentlich alle Sendungen mit nennenswerten Einschaltquoten in dieser Zeit.
    Â»Mir geht da was durch den Kopf«, sagte er. Emilia hörte, wie jemand am anderen Ende der Leitung Zigarettenrauch in die Sprechmuschel blies. »Macht was Leichteres, there’s no business like show business: ein Musical! Eins, das in London oder am Broadway Erfolg hatte. Jesus Christ Superstar , Hair oder Cats …«
    Â»Du bist genial, Kleiner.«
    Â»Wenn du es sagst, Mamachen.«
    Naidenov hatte es nicht eilig. Er lächelte träumerisch und geheimnisvoll, dann wieder las er etwas auf dem Blatt, das vor ihm lag. Kurz bevor der Kaffee aufschäumte, unterschrieb er es. Die Tassen, in denen er das kostbare schwarze Nass servierte, waren mindestens hundert Jahre alt, vermutlich gehörten sie zum Inventar des ersten Direktors am Volkstheater.
    Â»Nachher müssen Sie mir aus dem Kaffeesatz lesen.« In Naidenovs Blick stand Spott an der Grenze zur Grausamkeit. »Ich habe gehört, Sie können das.«
    Er seufzte. Das Licht drang grau durch das seitliche Fenster und ließ seine Augen noch verwaschener, noch glupschiger aussehen. Leere Augen waren das. Verschlagene Augen. Er war hier mit Donner und Doria angetreten, »um die demokratischen Traditionen des Theaters« wiederaufleben zu lassen. Ausgerechnet er, der vor der Wende einer der ausgefuchstesten Zensoren gewesen war, beauftragt, die »ideologische Reinheit« im Theater zu bewahren. Er hatte viel mit den oberen Etagen zu tun gehabt, war ihnen gefällig und zu Diensten gewesen und hatte die typische moralische Verdorbenheit des Höflings. Nach dem politischen Umsturz vom 10. November 1989 warf er öffentlich sein Parteibuch fort und machte auf Demokrat, »im Herzen und in der Seele immer Dissident gewesen«. Er erfrechte sich sogar, sich als Opfer von Repressionen darzustellen, was eine so unglaubliche Verdrehung der Tatsachen war, dass ihm der uneingeweihte Normalbürger einfach glauben musste. Emilia war einmal in »die Stadt der Wahrheit« gegangen, das waren dreißig vor der Parteizentrale aufgebaute Zelte, in denen Intellektuelle ihren Protest gegen alles Kommunistische zum Ausdruck brachten, schlafend, Butterbrote kauend, vor allem aber öffentlich und an exponierter Stelle, sodass sie nicht unbemerkt bleiben konnten. Sie war irritiert durch dieses Zeltlager gewandert, und als sie sah, wer sich alles dort unter den »Dissidenten« aufhielt, bekam sie vor lauter Scham und Peinlichkeitsgefühlen Kopfschmerzen! So also »machte man Lebenslauf«: indem

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