Seelenasche
Basedow-Augen über den Schreibtisch gebeugt eindringlich an. DrauÃen dunkelte es. Im Zwielicht wirkte sein Büro, als sei darin die Zeit stehengeblieben. Die imitierten Möbel im Stile Louis XVI. wirkten übertrieben prächtig; ein müder Hauch von Gold umwehte sie. An einigen Stellen waren die Polster abgewetzt, sogar zerrissen. Alles in diesem Raum, von den Kristalllüstern an der Decke bis zu dem trüben Spiegel, der immer nur ein und dasselbe, nämlich eine endlose Nacht unter schweren Wolken reflektierte, erinnerte an das Bühnenbild eines klassischen französischen Stücks, nachgestellt in einem Antiquitätengeschäft, dessen Besitzer verstorben war.
Naidenov hatte sie nicht einfach nur zur Besprechung eingeladen, er hofierte sie geradezu, überhäufte sie mit Komplimenten und Liebenswürdigkeiten, und auf der Kochplatte in seinem Rücken köchelte im Stieltöpfchen der türkische Kaffee. Der neue Direktor war bekannt als groÃe Kaffeenase und erklärte gern auch ungefragt, dass es für eine wirklich gute Tasse ein unfehlbares Rezept gäbe: wenig Wasser, viel Kaffee! Die GroÃzügigkeit seiner Geste erhellte erst so recht, wenn man wusste, dass echter brasilianischer Kaffee seit geraumer Zeit nirgendwo mehr zu bekommen war. Die beiden schwiegen sich an, ernst und wohlerzogen, geradezu übertrieben taktvoll, und Emilia wurde das Gefühl nicht los, dass Naidenov sie nur deshalb zu sich gerufen hatte, um sich nicht immer allein den Schlaf vertreiben zu müssen.
Da Emilia ein tiefes Bedürfnis danach hatte, wahrgenommen zu werden, war sie in dieser Zeit ohne Engagements in eine seelische Schwerelosigkeit gefallen, in die vielleicht schwerste Krise ihres Lebens. Nicht genug damit, dass sie in den letzten Jahren beruflich nicht gefragt war; auf einmal wurde ihr auch klar, dass der demokratische Umbruch drauf und dran war, sie und ihre gesamte künstlerische Vergangenheit hinwegzufegen. Ohne Vergangenheit, also auch ohne Zukunft. Mit wechselndem Erfolg hatte sie in etwa zwanzig Filmen mitgespielt, die meisten davon waren auf langweilige Weise »ideologisch korrekt«. In diesen Filmen wurde pathetisch der groÃe Wahn des sozialistischen Aufbaus gefeiert, wurde von Arbeiterbrigaden erzählt, von »Helden der sozialistischen Arbeit« und edlen Parteisekretären, die dem Guten zum Sieg und dem Bösen zur verdienten Strafe verhalfen. Thema und dramatischer Konflikt waren an den Haaren herbeigezogen, die Protagonisten von einem Optimismus beseelt, der einen selbst bei nur bescheiden entwickeltem gesunden Menschenverstand stutzig machte. Diese politisch erwünschten und bestellten Filme wurden vom Publikum entsprechend lau aufgenommen, mussten aber von den Kritikern gefeiert werden, da sie eben die verbriefte Wahrheit des wissenschaftlichen Sozialismus künstlerisch umsetzten. Diese Filme liefen lange, vor allem in den Kinos in kleinen Städten und den Kulturhäusern auf dem Land. Oft wurden sie anschlieÃend auch vom Fernsehen ausgestrahlt. Wie auch immer die Menschen diese Pflicht-Filme fanden: Emilia war präsent in Gedächtnis und Phantasie einiger Generationen als schöne, reine und von Idealismus beseelte Frau, die als Gegenreaktion unweigerlich schmutzige Gedanken weckte. Für Otto Normalbulgare war sie jedenfalls die Verkörperung seiner erotischen Sehnsüchte, weil sie verführisches ÃuÃeres mit SpieÃigkeit versöhnte.
Mit all dem war nun definitiv Schluss. Im Fernsehen hatten amerikanische Thriller ihren Siegeszug angetreten, die auf ihre Weise auch naiv, einfältig und idealisiert waren, aber nur so strotzten vor Action und pikanten Szenen, und dabei viel effektvoller und dramaturgisch ausgebuffter gemacht waren. Ihre Botschaft war, das Recht des Stärkeren zu verkünden, den Sieger zu feiern, den Superman; genau das Gegenstück zum sozialistischen Film, der den unerschütterlich an sein Ideal glaubenden und dafür sogar zum Opfer bereiten Menschen gefeiert hatte.
Im Rumoren der Massendemonstrationen und dem Schäumen der Tage wurde Emilia plötzlich klar, dass ihr für die Zukunft nur noch eines blieb: vergessen zu werden ⦠und damit nicht fertigzuwerden. Sie hütete sich aber davor, Assen oder Dessislava etwas davon zu sagen, denn sobald sie es mitteilte, würde aus Ahnung Realität werden. Sie hütete sich sogar, es sich selbst einzugestehen. Sie
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