Seelenasche
und ausraubten, zu deren Schutz die uniformierten Ordnungshüter aus Steuergeldern bezahlt wurden.
Weitaus talentierter noch als ihre uniformierten Kollegen von der StraÃe waren die Spezialeinheiten der Staatssicherheit. Der Stolz des arbeitenden Volks, die »roten Barette«, wie sie genannt wurden, unterstützten die aufstrebende Unterwelt mit finanziell bestens anschubfinanzierten und in fernöstlichen Kampfsportarten vorzüglich ausgebildeten Neokriminellen, die den stiftkurzen Haarschnitt ihrer Grenzschutz-Karriere gleich beibehielten.
Aus dem Boden schossen auch Hunderte von Wechselstuben, dienstfertige Finanzinstitute und Privatbanken, die unerhörte Zinsen versprachen, um an das über Jahrzehnte angesparte Geld der Leute zu kommen, und auf der Gegenseite standen findige Kreditbetrüger, die mit ihren frischen Millionen nur so um sich warfen. Wenn sich ihr Geld dem Ende zuneigte, nahmen sie den nächsten Kredit auf und bauten davon die noch fehlenden Swimmingpools, Fitness- und Saunakeller in ihre Villen am Hang des Witoscha ein, die architektonisch alles aufboten, was der europäische Stilfundus zwischen Renaissance und Gründerzeit so hergab. So schufen sie mit phantasievoller Einfallslosigkeit einen neuen Eklektizismus: das Bonzenbarock.
Die einfachen Leute waren von der Fülle und Schnelle des Wende-Geschehens verwirrt: Gleichzeitg waren sie voller Begeisterung über das Ende des pseudosozialistischen Experiments und besorgt darüber, wie schnell sie verarmten. Nachdem die Leute fünfundvierzig Jahre lang die staatliche Bevormundung hingenommen hatten, waren sie nun hilflos ihren eigenen Träumen und Bestrebungen ausgeliefert. In diesen ersten Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs war alles möglich: Ein ehemaliger Barkeeper und ein Spitzel konnten eine Bank eröffnen, und jemand, der wegen Betrugs hinter schwedischen Gardinen gesessen hatte, konnte fürs Parlament kandidieren. Ringer und Ruderer, Boxer und Karatekämpfer legten sich dicke Goldketten um den Hals, um auf den ersten Blick zu signalisieren, dass sie nicht einfach nur über Recht undGesetz standen, sondern es selbst waren . Die Käuflichkeit der auf kargen Staatsgehältern vor sich hin kümmernden Justizangestellten oder aber der karrierewilligen Anwälte machte es ihnen leicht.
Dessislava versäumte die öffentlichen Demonstrationen, die sich von Beginn an in solche der Kommunisten und solche der Anti-Kommunisten teilten, nicht. Die Kundgebungen der »Blauen« gaben ihr seelischen Auftrieb, weil jedes Wort aufrichtig gesprochen war und spontane Reaktionen bei der Menge hervorrief, die die Luft mit Elektritzität aufluden, mit echter Wut, mit einer Freiheit, die man spüren konnte â eben mit ungeheurer Energie, die es jedem gestattete, er oder sie selbst zu sein. Bald darauf erstarrte Bulgarien und teilte sich in zwei Lager, und die Parteipolitik drang in jedes Haus. Simeon ging auf die Demos der »Blauen«, Dessislavas Vater auf die der Roten. Sie selbst ging meistens zu den Nachtwachen, diesen stillen und selbstversunkenen Bekundungen des Nichteinverständnisses, die durch die nie gekannte Freiheit, sich zu versammeln, Protest und Trost vereinten. Für gewöhnlich fanden diese Kundgebungen statt auf dem umgetauften »Platz der Demokratie«. In kalten mondlosen Nächten schienen Tausende von Kerzen auf und sandten ihren Schein in die hohle Hand des Windes, fragil, zitternd â ein wunderbares Abbild der gepeinigten Seelen jener, die sie hielten. Diese Atmosphäre berauschte sie. Sie fühlte sich auf gesegnete Weise allein und vereint mit all jenen, die gekommen waren, um die Vergangenheit zu brandmarken und die Zukunft mit dem Licht ihrer eigenen Hoffnungen zu erhellen. Christo, ihr Vetter, begleitete sie, sooft er konnte. Dann schmiegte sie sich vertrauensvoll an ihn, seine Wärme, seine Ruhe und Stärke, und sagte:
»Hier fühle ich mich wirklich frei.«
»Natürlich«, erwiderte er augenblicks und hauchte ihr in die Hände, um sie zu wärmen.
»Alle hier sind frei ⦠und gute Menschen«, insistierte sie, als hätte er irgendetwas Gegenteiliges behauptet.
»Sogar ich«, sagte Christo mit geheimnisvollem Unterton in der Stimme.
»Nur sehen wir jetzt, dass Freiheit und Sicherheit schlecht vereinbar sind, meist sogar einander widersprechende, unversöhnliche
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