Seelenasche
Seine prophetische Sendung! Ja, das mussten wirklich Verrückte sein, diese Bulgaren, was war das nur für ein Land? Hoffentlich gab es jetzt wirklich diesen Gott, den er predigte; wer sonst sollte ihn noch retten?
Die Leibwächter umstellten ihn schützend. Diese zehn muskulösen Mannsbilder versuchten hauend, schlagend und zupackend die zudringliche Menge von Glenn fernzuhalten, aber das stachelte die Sehnsucht der Leute nur noch mehr an, sich ihm zu nähern, ihn zu berühren und sich vor ihm zu verneigen, um Trost bei ihm zu finden und sich dem Wunder hinzugeben, das durch ihn geschehen war.
Am Ende schafften es die Leibwächter, den Amerikaner aus der Gefahrenzone zu bugsieren. Sie verfrachteten ihn auf den Rücksitz des bereitstehenden Mercedes und brausten ab zum Sheraton-Hotel. Der Wanderprediger verlieà sein Hotelzimmer noch nicht einmal mehr zum Abendessen. Er nahm eine heiÃ-kalte Wechseldusche und verbarg sich vor dieser Welt. Aber konnte er sich auch vor sich selbst verbergen? Was denn, wenn er tatsächlich von Gottes Segen getroffen worden war und ein Wunder vollbracht hatte? Was, wenn er die Rettung war, der irdische Vermittler der göttlichen Allmacht? Die ganze Nacht bekam er kein Auge zu vor Angst. Er erstarrte vor Entsetzen, sein Körper krampfte sich in einem furchtbaren Schmerz zusammen, und er bekam kaum Luft, als habe er Schüttelfrost. Im Halbschlaf ereilte ihn die albtraumhafte Vision, dass der wundersam Geheilte sich über sein Bett beugte und ihm mit Händen, die stark waren wie Schraubstöcke, die Kehle zudrückte.
Am anderen Morgen, noch immer unter Schock, völlig entmutigt und erschöpft von Schlaflosigkeit und Seelenpein, sagte Prayer John Glenn die öffentlichen Veranstaltungen, die noch für Plovdiv und Warna geplant waren, ab. Er ordnete an, sein Flugticket so umzubuchen, dass er mit dem schnellstmöglichen Flug über London nach San Francisco zurückfliegen konnte, wo auÃer der Erhabenheit des Pazifischen Ozeans, gelegentlichen Erdbebenkatastrophen und buckligen Berg-und-Tal-StraÃen keine weiteren Wunder zu befürchten waren.
Zweites Kapitel
1
Jordan saà in der Cafeteria des Senders, ganz in der hintersten, dunkelsten Ecke. Lärm und Gerede, Anspielungen und Witzeleien drangen als diffuse Geräuschkulisse zu ihm. Er wartete auf Sima, um mit ihr die nächste Sieben-Tage -Sendung zu besprechen. In letzter Zeit wiederholte sich die Sendung; nicht thematisch, aber atmosphärisch, in ihrer radikalen investigativen »Glasnost« und ihrem respektlosen, hyperkritischen journalistischen Stil. Die Zuschauer hatten ihren Erwartungshorizont, und je offener und weiter der war, desto gröÃeres Interesse weckte das, was die Kameras da einfingen. Jordan gehörte zu den wenigen Moderatoren, die es verstanden, nicht parteiisch zu werden in den polemischen Diskussionsrunden, sondern objektiv zu bleiben. In Sieben Tage prallten die Vertreter der BSP, der bulgarischen Sozialisten, die die ersten freien Parlamentswahlen im Juni 1990 gewonnen hatten, mit führenden Vertretern der Union der demokratischen Kräfte aufeinander. Es kamen zu Wort Vertreter der wiederauferstandenen Demokratischen und Radikaldemokratischen Partei, des ASB, der Grünen, des Klubs der Repressionsopfer und der nationalistischen Makedonischen Befreiungsfront. Es entbrannten flammende Auseinandersetzungen, die mit ihren gegenseitigen Anschuldigungen und Unterstellungen manchmal die Grenzen des Absurden überschritten. Alle redeten sich um Kopf und Kragen, waren engagiert bis zur Boshaftigkeit, und genau diese ungestüme Atmosphäre, in der jeden Moment neue Enthüllungen zu erwarten waren, hielt das Zuschauerinteresse hoch. Die Frage war nur: wie lange noch?
Das Licht in der Cafeteria war so grell, dass Schmutz und Müll erbarmungslos zu sehen waren. Die Abfalleimer quollen über vor Plastikbechern und Servietten voller Ketchup und Mayonnaise. Es roch nach Kaffee und Import-Zigaretten, nach Bratwürstchen und ausgetrockneter Luft, nach Damenparfüms und MännerschweiÃ, vor allem aber nach etwas, das sich einer genaueren Bestimmung zwar entzog, aber dafür umso penetranter in der Luft lag: nach dem ständigen Bemühen, aufzufallen, bemerkt zu werden, kurz: nach Eitelkeit.
Seine Kollegen wussten: Wenn Jordan sich ins Eckchen verzog, war er am Rand eines Nervenzusammenbruchs und wurde schnell bissig. Es war also
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