Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
»Das ist jedenfalls der einzige Weg, auf dem du zum Demokraten werden kannst, und ich zur Dozentin für Römisches Recht.«
11
    Im Wohnzimmer war es halbdunkel und schon wieder so unerträglich heiß, dass die Fensterscheiben beschlugen. Herabrinnende Tropfen furchten den endenden Tag. Professor Kotzev saß bequem ausgestreckt im Sessel. Die Kälte des Alters war größer als die Kraft der unregulierbaren Zentralheizung, sodass er sich beim Radiohören wieder in die dicke Wolldecke mit den großen tiefroten Karos eingewickelt hatte. Intoleranz und Starrsinn schienen zum Körpergeruch dieses vergreisenden Mannes zu gehören. Er drehte inzwischen nicht mehr leise, wenn Radio Free Europe oder die Deutsche Welle liefen, auch wenn die Stimme der Sprecher provozierend klar und ein wenig zu feierlich und triumphierend klang. Doch diese Selbstzufriedenheit konnte den Akzent des Vorlesenden auch nicht vertuschen.
    Â»Wie sind die Nachrichten?«, fragte Alexander mit gespielter Besorgnis.
    Â»Na, zum Kotzen.« Zur Illustration schneuzte sich sein Schwiegervater in sein zerknittertes Taschentuch. »Diese sauberen Herrschaften …«
    Â»Welche sauberen Herrschaften?«
    Professor Kotzev antwortete nicht darauf, sondern drückte sein Gesicht noch tiefer ins Schnupftuch. Igendwie musste er es ihm ja sagen. Besser, der Schwiegervater erfuhr es von ihm als von einem der vielen Wichtigtuer der Marke »Wussten Sie eigentlich schon, dass Ihr Schwiegersohn …«, die durch die Gänge der Akademie der Wissenschaften huschten und nur auf die passende Gelegenheit warteten, um jemandes Gesichtszüge »entgleisen« zu sehen. Alexander setzte sich auf den Sessel ihm gegenüber und zog mit heimlichem Ekel, als handle es sich um verdorbenes Essen, eine Zeitung aus seiner Tasche. Seit einigen Monaten hatten die Kommunisten ihre Parteizeitung, das Werktätigenblatt , umbenannt in Wort . Der demokratischere Titel hatte auch freiere Meinungsäußerungen im Gefolge gehabt. Er öffnete die Zeitung auf der vierten Seite, lächelte vornehm, aber mit der verkappten Furchtsamkeit des ewigen Lakaien, und reichte sie seinem Schwiegervater. Der brach sein Schneuzkonzert ungeduldig ab, in seine Augen kehrte der Verstand zurück, und mit ihm die Fragen.
    Â»Sieh’s dir einfach an«, sagte Alexander wenig geistreich.
    Der Tag draußen endete im Nebel. Die alte Brandmauer des Mietshauses gegenüber wurde zuerst grau, dann verschwand sie. Alexander stand auf und schaltete das Licht ein. Vor lauter innerer Aufregung brach ihm der Schweiß aus. Er holte tief Luft, schnupperte durch den Raum, und erst jetzt konnte er den Geruch bestimmen. Na, sicher, Kotzev roch nach der Baldrianmischung, die einzunehmen sein Schwiegervater ja auch ihn überzeugt hatte. Diese Ausdünstung von Arthritis, totem Fleisch, körperlichem Schwund erfüllte ihn mit besonderer Ruhe, einer seligen Geistesabwesenheit, ähnlich den Momenten, in denen Ljuba ihm von ihrer Untreue mit Ewgeni Pejtschev beichtete. Jetzt war der Augenblick gekommen, in dem er scheinbar besorgt die Decke um das Alter seines Schwiegervaters feststopfen und dann dezent verschwinden musste. Doch das bizarre Gefühl der Macht über dessen hinfällig werdende Präsenz durchrieselte ihn schon, kribbelnd wie der Aufmarsch durchsichtiger Baby-Ameisen.
    Â»Wer hat denn dieses Pasquill verbrochen?« Kotzev hatte das Ende der Rezension noch nicht erreicht, hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, vorher den Namen unter dem Artikel zu lesen.
    Â»Ich«, antwortete Alexander leise.
    Professor Kotzev schaute ihn an, ohne zu zwinkern. Er war derart gewöhnt an seine, Alexanders, für ihn so bequeme Charakterlosigkeit, dass er das jetzt einfach nicht glauben wollte. Er schaute wie eine Eule, die sich aus der Dunkelheit ins Licht verirrt hatte.
    Â»Aber wir haben doch gar nicht abgesprochen … Es war doch gar nicht die Rede von …« Seine Stimme wurde heiser und stieg schrill in die Höhe. »Wie konntest du …?«
    Â»Assens Buch ist derart rückständig, es riecht stellenweise regelrecht nach Schimmelpilz, und die Abschaffung von Paragraf 1 der Verfassung von einundsiebzig, die die Partei als bestimmend in allen Staatsfragen festschreibt, hat er nicht einmal für der Erwähnung wert gehalten.«
    Â»Der Anfangsparagraf? Weißt du eigentlich, was das für Folgen hat, dass diese Omas

Weitere Kostenlose Bücher