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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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späte Apostel Jesu John Glenn, Nachfolger des prophetischen Verkünders Edwin Kacey, durch seinen Übersetzer der Menge erklären, dass ihre Glaubensenergie für diesen nicht mehr ausgereicht habe, sodass auch seine seelische Kraft nach zwei Geheilten erschöpft sei, was ihnen doch bitte zur Mahnung gereichen möge, dass – sosehr Gott ihm auch von seinem Licht und seiner Allmacht gegeben habe – auch der Satan nicht zu unterschätzen sei.
    In schlichtes Schwarz gekleidet, bestieg der Prediger die improvisierte Bühne und hob die Arme zum Gebet. Ob nun vom Wind, von der menschlichen Verzückung oder von dem bevorstehenden Wunder: Eine der zwölf gewaltigen Glocken der Newski-Kathedrale gab einen leisen Gongschlag von sich, als seufze auch das Gotteshaus auf. Ein Raunen ging durch die Menge. Da begann der Prediger auf Englisch zu reden wie Donnerschlag. Niemand verstand auch nur ein Wort, doch die aneinandergepressten Menschen waren so einsam und verlassen, so hart geprüft von Totalitarismus und der grauenvollen Wende zur Demokratie, dass sie geradezu inbrünstig nach einem Wunder verlangten. Die leidenschaftliche Stimme des Gotterwählten teilte den Nebel, die Sonne schaute durch die Wolken und ließ die Versammlung erstrahlen. Der Prediger sah den Moment gekommen, sich an die Krüppel zu wenden und sie zum Glauben an Gott zu ermahnen, beschwor sie mit Worten und magischen Handbewegungen und seiner ganzen eigenen fanatischen Unausgeglichenheit, doch vom Bösen abzulassen. Er sah aus, als spräche er in Trance. Plötzlich verhärteten sich seine Züge. Sein Gesicht glich dem eines Toten, als er – gleichsam im Namen Gottes – brüllte:
    Â»Zeige dich, Satan! Weiche von ihnen, Satan!«
    Der gespannten Menge entrang sich ein Seufzer. Die zwei Mietkrüppel warfen ihre Krücken fort, richteten sich ohne große Mühe auf und tanzten glücklich über die Tribüne.
    So weit, so geplant. Da aber geschah das Unerhörte. Den Dritten, wirklich Gelähmten, durchlief ein krampfhaftes Zucken. Es schien, als zwänge er sich aus einem Panzer. Sein Gesicht wurde bleich vor Anstrengung. Dann stand er auf, zitternd, mühsam, gequält. Er schwankte, machte einen zaghaften Schritt, dann noch einen. Vor Anstrengung lief ihm Rotz aus der Nase und Speichel aus dem Mund. Ein ungläubiges Lächeln umspielte seine Lippen.
    Prediger John Glenn schaute drein, als sei er von einem Stein getroffen worden. Er taumelte, als habe die Anstrengung des Gelähmten seine eigenen Kräfte vollkommen aufgezehrt, sodass nun er in Gefahr stand, in dem frei gewordenen Rollstuhl Platz zu nehmen. Vor Verblüffung, Freude und glücklicher Beklemmung fing die Mutter des Wundergeheilten an zu schreien und sich das Haar zu raufen. Die Menge stöhnte auf, geriet außer Rand und Band. Einige fielen auf die Knie und robbten auf die Tribüne zu. Alle streckten dürstend die Arme aus, wollten ein Stück Holz, ein Stückchen von dem Abgrenzungsseil an sich bringen, so als sei diese zusammengekloppte Rednertribüne ein Reliquienschrein, von dessen wundertätiger Kraft es ein Stückchen zu bergen galt, solange es ihn gab.
    Der Amerikaner hob abwehrend die Hände, um sich vor der Liebe der Menge zu schützen, die ihn wie eine Dampfwalze zu überrollen drohte. Wie konnten diese Leute da unten denn allen Ernstes glauben, was er da … Die waren ja … die waren ja wahnsinnig!
    Die Mutter des jungen, unrasierten Mannes, der da gegen die Regieanweisung aufgestanden und gelaufen war, brach auf dem Podium zusammen, riss sich das Kreuz vom Halskettchen, reichte es dem Wunderprediger, fiel nieder und küsste ihm die Schuhe. Die beiden bezahlten Scheinkrüppel erschraken, sprangen zurück wie Grashüpfer und versuchten, sich mit ihren Krücken einen Weg durch die Menge zu bahnen. Die Angst durchströmte Prediger John Glenn wie ein eisiger Gletscherbach. Sein kantiger Unterkiefer hing herab, seine Arme schwankten erhoben, um ihn in kraftloser Bewegung vor den Folgen des ungewollten Wunders zu schützen. Und wieder erreichte ihn aus den Kehlen der Tausende ein tiefes Raunen voller menschlicher Wärme. Die Luft war erfüllt von plötzlichem Glauben, von Armut und Sünde. Diese Menschen waren bereit, ihn über alles zu erheben, was sie erfahren, was sie kennengelernt hatten. Diese Menschen glaubten an ihn. An seine göttliche Berufung.

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