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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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der ewig feuchten Nordwand, die jeden Sommer ausgiebig gelüftet und getrocknet werden musste, und dem Geruch vergangenen, fremd gewordenen Lebens. Dieses Haus stand voll alter Möbel, chamoisbraunen Fotos und war erfüllt vom Duft seiner Mutter nach unzerrüttbarer Trauer und jener grenzenlosen Reinheit, in der nur wahres Leid es aushalten kann, zu leben. Dort würden ihn ihre Brüsseler Spitzenklöppeleien empfangen, die maschengewordene Geduld einer auf immer enttäuschten und von allen verlassenen Frau.
    Irgendwo in der Bibliothek seines Großvaters mütterlicherseits, des Anwalts Kamenov, die vollgestopft war mit den Büchern der Klassiker sozialistischen Denkens und eingesponnen von Spinnweben, befand sich wohl auch noch sein Heft mit den getrockneten Pflanzen, das er als Kind angelegt hatte, die – mit aus Mehl gerührtem Leim auf die Heftseiten geklebt – beim leisesten Anfassen zerbröseln würden wie die Erinnerungen an eine freudlose Kindheit.
12
    Gleich nach der demokratischen Totalsprengung, die den Eisernen Vorhang in voller Länge niedergerissen hatte, ereigneten sich eine Reihe wunderlicher Dinge. Auf eine alles andere als klare, nachvollziehbare Weise zerfiel zunächst der Warschauer Pakt, und die bulgarische Armee blieb – ohne sowjetisches Oberkommando – verwaist zurück; gleich darauf auch der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Die sinnlose Jagd in den Fabriken nach Ȇbererfüllung« der Fünf-Jahres-Pläne durch Akkorde, die vor allem für minderwertige Ware in großer Stückzahl gesorgt hatten, wurde durch offene, ja, dreiste Faulheit abgelöst. Bei seinem Sturz riss der für »unkaputtbar« gehaltene Staatssozialismus auch die staatliche Administration mit sich, die beide eng verflochten waren. Aus der versmogten Winterluft Sofias stiegen schillernde neue Wortblasen empor wie »Bisnes«, »Offis« und »Bodigard«, zum Entsetzen mancher aber auch »Restitution«, Wiedergabe des einst Verstaatlichten an die früheren Privateigentümer oder ihre Erben. Die Absolventen Dutzender staatlicher Sportschulen, auf einmal nicht mehr rundum versorgt und der Perspektive beraubt, durch das Erringen von Medaillen auf internationalen Meisterschaften und bei Olympia weitere beträchtliche Privilegien zu erhalten, taten sich wie auf geheimen Zuruf zusammen und begannen, Bulgarien in einen offenen Boxring für Freistil-Kampfsportarten zu verwandeln.
    Sie bildeten Schutztruppen von je etwa fünfzig muskulösen Adrenalin-Testosteron-Bomben, nannten sich »Brigaden« und führten – von niemandem behelligt – ihre Muskeln, ihren Achselschweiß, ihre Überheblichkeit und meist auch einen Baseballschläger spazieren. So ausgestattet, betraten sie ein Restaurant oder ein neu eröffnetes Geschäft, boten dem Pächter an, ihn gegen ein Drittel seines Monatsumsatzes vor unliebsamen Besuchern zu »versichern«, und wenn dieser die Kühnheit hatte, das Angebot auszuschlagen, schlugen sie ihm die Zähne aus, brachen ihm die Rippen und verwüsteten sein eben erst eingerichtetes Ladenlokal. Eine solche Probe aufs Exempel genügte meist, um auch die anderen neuen Kleinunternehmer davon zu überzeugen, wie sinnvoll es war, diesen Schutz in gefährlicher Zeit anzunehmen. Die »Security«-Leute, wie sie bald businessgemäßer firmierten, waren auch bereit, Bestellungen entgegenzunehmen. Wenn jemandem in der jungen Marktwirtschaft ein Konkurrent allzu sehr das Geschäft verdarb, genügte es, dass er einen Beutel mit Banknoten füllte, die damals nicht schein-, sondern bündelweise gezählt wurden, und sie den starken Dienstleistern mit dem Auftrag überreichte, das Firmenkapital des Mitbewerbers, und manchmal auch diesen selbst, in eine Erinnerung zu verwandeln.
    Beim Anblick dieser Brigadiere neuen Typs, die frei und glücklich nach Gutdünken handelten, kamen auch die Milizionäre ins Nachdenken, die sich nun schon »Polizisten« nannten und Schlagstöcke, Handschellen und Schusswaffen trugen wie ihre bewunderten amerikanischen Kollegen. Sie lernten von ihren privaten Kollegen schnell, dass nichts leichter war als Geld verdienen, wenn man nur hier ein wenig die Hand aufhielt und da ein wenig die Augen zudrückte. Besaß man mehr Courage, konnte man auch gemeinsame Sache mit den Banditen machen, die genau jene anständigen Leute bedrohten

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