Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
da im Parlament vor der Opposition in die Knie gegangen sind und zugestimmt haben …« Vor Entrüstung verschlug es ihm die Sprache. »Wie konntest du nur?«
    Â»Und 1957, wie konnte ich denn da?« Diese berechtigte Frage brachte seinen Schwiegervater nur noch mehr auf die Palme.
    Â»1957 mussten wir alles tun, um den Sozialismus zu verbessern; aber jetzt gilt es, ihn zu retten.«
    Er zog seine buschigen Augenbrauen zusammen, sein Kinn zitterte, auf Gesicht und Hals erschienen dunkelrote Flecken. Die Rührung hatte ihn gepackt. Nun war seine Ausdünstung nach Baldrian und Kampfer unerträglich, roch nach jener Grausamkeit, mit der die Altersschwäche doch noch die Oberhand behalten will.
    Â»Jetzt sag bloß noch, es stimmt, dass du zu diesen Renegaten vom ASB übergelaufen bist?«
    Die Hand seines Schwiegervaters glitt von der Decke. Sie hatte die Farbe und Zerbrechlichkeit von Pergament, war faltig und übersät von bläulichen, aber trockenen Venen. Diese Kralle des alten Raubvogels brachte ihn derart in Rage, dass etwas Unerklärliches geschah. Es war, als verließe ihn nicht nur der Verstand, sondern auch Körper und Sinne, sodass er keine Kontrolle mehr über sie hatte. Ihn überkam, genährt von seinen Ängsten und seiner Hilflosigkeit, ein Zornesimpuls von solcher Stärke, dass sein Gesicht sich verzerrte. Er hätte jetzt am liebsten unter die Decke gegriffen und diesen verkalkten alten Starrkopf genau so an den Testikeln gepackt, wie Theodora das bei ihm getan hatte, und wenn er sie schon nicht abriss, dann wenigstens so zugedrückt, bis dieser Tatterich um Erbarmen winselte. Er musste lachen bei der Vorstellung, dass er das ohne weiteres tun konnte, und wie komisch das aussehen würde. Doch in diesem Moment begannen ihm am ganzen Körper die Haare zu Berge zu stehen in einem derartigen Anfall, als sei alle Angst, die sich über viele Jahre in seinem Gemüt abgelagert hatte, ins Rutschen gekommen.
    Â»Arschloch!«, kreischte er. »Sieh dich doch mal an, du Bastard! Und wie du erst riechst, uuuh!«
    Er hätte vielleicht noch weiter so herumgeschrien und sich am gefährlichen Kitzel der plötzlichen Freiheit ergötzt, mit diesem von den Jahren und von den Ereignissen entkräfteten Alten machen zu können, was er wollte, wenn er nicht aus dem Augenwinkel, dort, wo die periphere Sicht in Vorahnung übergeht, Ljuba wahrgenommen hätte. Sie war lautlos gekommen und hatte sich an den Türrahmen gelehnt, stand da in der hohlen Öffnung wie eine von allen verlassene Frau. Sie war Zeugin des eben Geschehenen, und das hieß, dass es nun Tatsache geworden war. Sein Lachen brach ab und endete in einer Art heiserem Krächzen.
    Â»Ich wollte sagen«, fuhr er fort wie ein ertapptes Kind, das dem Rohrstock entkommen will, »durch das da mit dem Paragrafen 1 ist die Sache irreversibel geworden!«
    Ohne zu wissen, wie, mehr mit dem Körper, mit den Tränen, die seine Wangen hinabliefen und in seinem Mund zu einer salzigen Erinnerung ans Meer zusammenrannen, gelangte er ins Schlafzimmer. Er holte die beiden Koffer vom Kleiderschrank und begann, sie mit seiner Wäsche, seinen Hemden und Anzügen zu füllen. Er fühlte diesen schneidenden, verzehrenden Hunger nach Fleisch, dunkel wie das Verbrechen, aus der Magengrube aufsteigen. Es aß ihn Fleisch, es trank ihn Fleisch! Er schleppte sich in die Küche, holte die zum Hufeisen gebogene, scharf gewürzte Hartsalami heraus, die er einer alten Bäuerin, die ihre hausgemachten Erzeugnisse auf einer simplen Kiste feilbot, für sündhaft teures Geld abgekauft hatte, und biss, ohne den Naturdarm abzuziehen, hinein, füllte sich den Mund mit der Delikatesse und saugte deren konzentrierte Aromen in sich auf. Sie milderten die beißende Salzigkeit seiner Tränen und verliehen ihnen den Duft nach Bohnenkraut. Ah, was für eine Erleichterung! Nun musste er nur noch finden, wohin er gehen konnte. Er hatte das Gefühl, wenn er nicht augenblicklich etwas fand, wäre es unwiderruflich zu spät für die schicksalhafte Wende in seinem Leben, die ihn rettete.
    Sein erster Gedanke war, bei seinem Vetter Assen Weltschev unterzukriechen; aber der hatte bestimmt schon Theodoras rufmörderische, von Gift und Galle getränkte Rezension gelesen. Da musste er an sein Elternhaus in Widin denken mit der weinumrankten Pergola und dem verwilderten Gärtchen, mit

Weitere Kostenlose Bücher