Seelenasche
Geisteszustände. Frei sein heiÃt, für sich selbst verantwortlich sein, und vor allem, von den eigenen Fähigkeiten, der eigenen Aktivität abhängig sein«, philosophierte Dessislava, während Christo sie voller Bewunderung anschaute. Dessislava schaute zurück, aber nicht voller Bewunderung, sondern voll Tadel und Skepsis: »Und was sind die Leute aus dem Sozialismus gewöhnt? Unfrei, aber sicher zu sein. Sicher in ihrer ärmlichen Grundversorgung, sicher, dass ihre Kinder eine kostenlose Ausbildung bekommen und sie kostenlos zum Arzt gehen können. Kinder waren wir eigentlich alle, und der Staat ein allmächtiger, strenger, knausriger Vater, der letzten Endes, wenn auch murrend, immer rausrückte, was wir Kinder brauchten, von der Wiege bis zur Bahre.«
»Hast ja recht, Dess.« Christo zog aus seiner Manteltasche einen Flachmann mit Wodka, den er eigens für sie eingesteckt hatte, damit sie sich innerlich wärmen konnte. Zur Sicherheit nahm er sie auch noch in den Arm.
Die Dunkelheit kam jetzt schnell, und die Gesichter der Menschen tauchten darin unter, als vertieften sie sich in ein Gebet.
»Das mit dem Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit ist wirklich der entscheidende Punkt. Aber wie ich die Leute kenne ⦠Auf Dauer ist die Angst vor der Freiheit gröÃer und schlimmer für sie als die Angst vor der Gewalt. Für mich ist das die Achillesferse unserer schönen neuen Demokratie.«
»Vielleicht gar nicht mal so sehr der Demokratie, aber der Menschen in Zeiten eines so heftigen Ãbergangs«, meinte Dessislava.
Sie schwiegen. Die Frau vor ihnen trat von einem Bein aufs andere. Sie war starr vor Kälte.
»WeiÃt du, was mir Angst macht? Die politischen Witze sind verschwunden! Das verheiÃt mir nichts Gutes.«
»Oh, gestern hab ich einen im Theater gehört«, meldete sich Dessislava und trank noch einen Schluck Wodka. »Treffen sich ein Jahr nach der Wende ein Pessimist und ein Optimist. Sagt der Pessimist: âºSchrecklich! Schlimmer hättâs nicht kommen können!â¹ Meint der Optimist: âºOh, warum so pessimistisch? Schlimmer geht immer!â¹Â«
Christo lachte, was den alten, auf einem Schemel sitzenden und in mehrere Schals eingewickelten alten Mann neben ihnen dazu bewegte, sie vorwurfsvoll anzuschauen. Er fand, dass die Magie dieses Gemeinschaftserlebnisses, dieses schweigenden Protestes durch Humor nicht entheiligt werden sollte. Und vielleicht war es so, dass all diese Menschen hier unter der Himmelskuppel wirklich beteten um eine Wende zum Guten, derer sie alle bedurften. Dessislava legte Christo einen Finger auf die Lippen und drückte sich an ihn. Noch eine Stunde, und die Schweigewache würde zu Ende sein, und all diese flackernden Wachslichter würden sich in die umliegenden StraÃen verlaufen wie nach der Ostermesse, so als wäre die Demokratie der Erlöser , und als wäre Auferstehung, Zeit, das heilige Licht der Rettung in jedes Haus zu tragen.
13
Ende 1990 kam ein bedeutender amerikanischer Prediger und Verkünder der Wunder Jesu nach Bulgarien. Er nannte sich John Glenn, genau wie einer der ersten amerikanischen Astronauten, und sah aus wie ein Unteroffizier der berühmt-berüchtigten Marines mit seinem Quadratschädel und seinem quadratischen Unterkiefer, seinem stiftkurz geschnittenen Haar und den wasserblauen, unversöhnlich friedliebenden Augen; seine Stimme aber war einlullend wie die eines Betrügers. Das war keiner aus der eigenen slawischen Leutebetrügerschmiede wie Kaschpirowski, sondern ein Abgesandter der amerikanischen Demokratie, und so füllten an die hunderttausend Menschen den Platz vor der Alexander-Newski-Kathedrale mit ihrer Neugier und ihrer Vertrauensseligkeit. Auf den gelben Pflastersteinen wurde eine Tribüne errichtet, die von weitem eher einem öffentlichen Boxring glich als einer Verkündigungsstätte der Wunder des christlichen Erlösers.
Der Himmel war an diesem Tag verhangen, der Wind durchdringend und kalt, das Licht schmutzig-trüb. Die Organisatoren hatten der Anschaulichkeit halber drei Krüppel in alten Mänteln auf die Tribüne gehievt, von denen zur Illustration der Predigt zweie gegen Bezahlung auf Ansage ihre Krücken von sich werfen, aufstehen und gehen sollten; der dritte aber war wirklich ein Invalide, der durch Polio seit seinem vierzehnten Lebensjahr gelähmt war. Ãber diesen wollte der
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