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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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sozialistischer Moral und kapitalistischer Verderbtheit.
9
    Beim Schrillen des Telefons fuhr sie aus ihren Tagträumereien hoch. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und wischte sich den Rest von den Wangen ab. Mit einem letzten Schluchzer sprang sie auf das nackte, unbestrumpfte Bein und hüpfte zum Schränkchen, auf dem der Apparat stand.
    Â»Hallo, Dessi«, erkannte sie die Stimme ihres Vetters Christo Weltschev. Der hatte ihr gerade noch gefehlt! Am liebsten hätte sie einfach den Hörer hingeknallt. Er würde sie ja doch nur aus dem Fluidum der Einsamkeit reißen, den Erinnerungen an ihre Haarschleife und ihr weißes Kleid, an ihre überdrehte Kindlichkeit und jene schwindeln machende Überraschungsnachricht, dass ihre Eltern sich scheiden lassen wollten.
    Â»Dessi, hat dich der Erdboden verschluckt? Bitte? Ich hör dich schlecht …« Seine Stimme klang auf einmal panisch, und er begann ihr leid zu tun. Dabei fiel ihr auf, dass ihr in letzter Zeit andauernd jemand leid tat, und das konnte nur bedeuten, dass sie sehr an sich selbst litt.
    Â»Nee, gar nicht!«
    Â»Wollte mich entschuldigen, dass ich heute nicht zu deiner Probe kommen konnte.«
    Â»Na, so was aber auch, du kommst doch sonst zu all meinen Proben.«
    Â»Mea culpa, ganz unverzeihlich, aber ich musste eine Sitzung im Ministerium über mich ergehen lassen.«
    Â»Zu absolut allen meinen Proben.«
    Â»Der Minister hat mich aufgehalten, wollte meinen Rat und lud mich zum Kaffee ein … Am Ende stellte sich heraus, alles halb so wild, er wollte nur mal wieder Kontakt zu seinen Untergebenen pflegen. Hallo, Dessi, bist du noch dran? Nun sag doch etwas.«
    Â»Christo, jetzt mal ehrlich: Du bist absolut nicht verpflichtet, zu meinen Proben zu kommen. Heute zum Beispiel lief sowieso nichts, außer dass Hamlet betrunken war und Ophelia ausgehungert.«
    Â»Schau einer an … wie interessant.«
    Â»Evtimov ist gegen Ende gekommen und hat mich gelobt. Nannte mich ›perverse Hamlet-Killerin‹, aber dabei hat er natürlich an den papierenen Hamlet gedacht, wie er in den hergebrachten Lehrbüchern für westeuropäische Literatur interpretiert wird. Er versteht nichts von Theater, aber baggert mich ständig an.«
    Â»Schrecklich interessant. Wie konnte ich das nur verpassen. Morgen probst du wieder wie üblich am frühen Abend, nicht?«
    Â»Ja, ab sechs Uhr, wenn der Saal frei ist.«
    Â»Ich komme, ganz pünktlich.«
    Â»Du übertreibst es ein bisschen, mein Lieber; ich begreif einfach nicht, was du immer so ›interessant‹ an meinen Kaugummi-Proben findest. Hamlet wiederholt sich, ich wiederhole mich, und du wiederholst dich, indem du dir immer wieder ein und dasselbe anschaust …«
    Aber Christo hatte schon aufgelegt. Dessislavas Tränen begannen erneut zu fließen; sie schmeckten angenehm salzig, so verloren irgendwie …
10
    Nach ihrem Abschluss in bulgarischer Philologie sah Dessislava, dass sie weder Lehrerin noch Redakteurin, noch Dozentin werden und auch keinen Roman schreiben würde. So entschloss sie sich, auch noch Kunstgeschichte zu studieren. Die allgemeine Geschichte hätte sie nur genötigt, sich für die Menschheit zu schämen; die Kunstgeschichte aber gab ihr die Möglichkeit, sich wenigstens für etwas an ihr zu begeistern. Sie hatte von ihrer Großmutter geträumt, wie sie durchs Fenster dem Schnee zusah, der in lautlosem Fall unausgesprochene Worte, die Nacht, ihr ganzes Leben bedeckte. Auch im Zimmer fiel die Stille wie unberührter Schnee und verschluckte alle Gegenstände. Da schlug die Wanduhr zwölfmal. Jonka drehte sich um, lächelte ihr aufmunternd zu und gab ihr ihren Segen. »Du verstehst es wahrlich, zu lügen, Kindchen«, artikulierte ihr Mund lautlos, dann ging sie. In der Tat: Dessislava war eine vollendete Lügnerin. Was lag da näher, als sich mit der vielleicht schönsten und erhabensten Lüge der Menschheit, der Kunst, zu befassen. Selbst Kunst zu machen, dazu war sie nicht geschaffen, wohl aber dazu, sie zu lieben und zu verstehen. Ja, in diesem Bereich zu lügen, das kam ihr harmlos und poetisch vor, sogar angemessen und moralisch gerechtfertigt.
    Was das Wort »Moral« genau heißen sollte, verstand sie nicht, wohl aber wusste sie, dass es etwas Schwerwiegendes war, ohne das alles offenbar sehr schlecht war. Die Zeitungen vervielfältigten ununterbrochen

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