Seelenasche
Erörterungen oder Zetereien über irgendjemandes Moral, doch Dessislava ahnte, dass Moral einigen Menschen auch als Vorwand dienen konnte für allerlei Lügen bis hin zu aggressiven Ãbergriffen, Gewalttaten oder Gemeinheiten. Sie vermutete, dass »moralisches Verhalten« hieÃ, anderen nicht zu schaden und unauffällig zu sein, doch das traf auch auf Ameisen zu. Und so glaubte sie, dass moralisch im positiven Sinne auch der handelte, der um sein Recht kämpfte, er selbst sein zu dürfen, anders als die anderen, frei. Darum gab es in der Natur wohl keine Moral, weil es in ihr keine Individualität gab.
Mochte Dessislava noch so wissbegierig und »moralisch« sein; ihre Mutter war eine berühmte Schauspielerin. Und die konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihre Tochter so ganz unbekannt bleiben sollte, vollgestopft mit ȟberflüssigen Kenntnissen, die dich nur melancholisch machen, Liebes«, und dann auch noch Kenntnissen von der ruhmreichen GröÃe anderer! Als Emilia von Dessislavas Entschluss erfuhr, bekam sie fast einen Anfall. Sie schmiss einen Teller auf den Boden, dass die kleinen Porzellanstückchen Dessislava nur so um die FüÃe flogen. Dann weinte sie, ohnmächtig, stur, zerknirscht und voll gut gespielter Wut â das Wohnzimmer war viel zu eng für so viel Ausdruck! Wo war die Bühne des Volkstheaters, wo das Licht der Projektoren, wo der angehaltene Atem des Publikums? Neben so viel emotionaler Präsenz wirkte ihr Vater seltsam unbeteiligt, geradezu fehl am Platze â also wirklich bedroht!
Man musste kein Freudianer sein, um zu ahnen, dass Dessislava eine starke Bindung an ihren Vater hatte. Wenn sie also nachgab, so nicht ihrer Mutter, sondern seinetwegen. Sie fühlte sich verpflichtet dazu, ihn in ihren Kreis zurückzuholen, ihn zu retten, auch wenn sie ihr eigenes Leben damit verpfuschte. So kam es, dass sie sich im Alter von dreiundzwanzig Jahren um Aufnahme an der Schauspielakademie bewarb, im Fach Regie. Es gab auch ältere Kandidaten als sie, doch so sehr sie sich â einerseits â auch als kleines Mädchen mit Schleifchen im Haar fühlte, so sehr kam sie sich auch alt und entsetzlich verlebt vor. Dabei war sie eigentlich nur deprimierend kindisch.
Wie langweilig, für die Aufnahmeprüfung diese Fabel von Krilov auswendig zu lernen, dazu einen Monolog aus der Möwe von Tschechow und einen aus Tennessee Williamsâ Endstation Sehnsucht . Vorsitzender der Prüfungskommission war Theo Sotirov. Am Abend vor der entscheidenden, dritten Ausscheidungsrunde war sie mit ihrer Mutter zu ihm geschlichen. Es war heià gewesen. Sie trafen ihn in einer weiÃen Hose mit einem Fleck an sehr unziemlicher Stelle an. Die beiden älteren tranken Whisky. Dessislava erinnerte sich minutiös daran, wie die Eiswürfel krachend in die Kristallgläser purzelten. Ihr bot der Gastgeber Pralinen an und das Lächeln eines migränegeplagten Menschen, der nicht die geringste Lust hatte, sich auch noch mit kleinen Nervensägen zu befassen. Dessislava aà die Praline sofort auf, um nicht krampfhaft den Fleck auf seiner Gabardinehose anstarren zu müssen. Sie kannte Sotirov natürlich von Kindesbeinen an, und die GroÃen erzählten gern, wie sie ihm als Baby einmal ans Knie gepinkelt hatte; noch nie hatte er ihr aber einen so widerwärtigen Eindruck gemacht wie jetzt. Er sah schroff und sanft zugleich aus, schien in ihr noch immer das kleine Mädchen mit dem kurzen Röckchen und den gerüschten Strumpfhosen zu sehen, das er in die Wange kneifen konnte, bevor er seinen nächsten Versuch unternahm, mit dem Kneifen am Hintern ihrer Mutter weiterzumachen.
Nun, in diesem hell erleuchteten, von Importmöbeln aus dem Korekom-Geschäft stillos vollgestopften Wohnzimmer, kamen ihr diese beiden gealterten Helden der Bühne trotzdem wie heimliche Geliebte vor. Sie wusste zwar, dass das nicht stimmte, doch das übertrieben entgegenkommende Verhalten ihrer Mutter, der Fleck auf Sotirovs Hose und beider Unwillen, sie für voll zu nehmen, provozierten sie einfach zu diesem Gedanken. Besagter Fleck war länglich und vermittelte den Eindruck, als sei sein ReiÃverschluss offen. Er klapperte mit dem Eis in seinem Kristallglas, als versuche er, einen störrischen Wasserhahn aufzudrehen, oder als sei er im Begriff, den Glasinhalt ihrer Mutter ins Gesicht zu schütten. Emilia sandte mit
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