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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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besser, ihn nicht zu behelligen. Um ihn her war eine regelrechte Quarantänezone entstanden. Er war gerade aus seiner Gedankenverlorenheit aufgeschreckt und hatte gedacht: O Gott, fünf Uhr, der Strom wird abgeschaltet!, und hatte sich auch wieder beruhigt mit der Erfahrung, dass im Nationalfernsehen zwei Dinge niemals ausgehen: die Dünnbrettbohrerei und der Strom, da näherte sich ihm eine junge Frau, die ihm in ihrer naiven Unverfrorenheit halbnackt aussah. Sie trug eine violette Strumpfhose und einen Minirock, der so kurz war, dass man ihre langen, mageren Schenkel wirklich bis ganz nach oben verfolgen konnte. Über ihren Schultern hing eine Patchwork-Jacke, darunter leuchtete eine rötlich-grelle Bluse hervor, die fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft war und gerade eben noch ihre kleinen, festen Brüste bedeckte.
    Â»Dann wollen wir doch mal sehen«, begann sie neckisch.
    Â»Was wollen wir sehen?«, fragte er gereizt zurück.
    Â»Na, ob Sie mich erkennen«, lächelte sie und warf ihr langes Haar zurück, wie um einen Vorhang von ihrem Gesicht zurückzuziehen.
    Â»Sie stellen mich vor ein unlösbares Problem«, erwiderte Jordan grimmig. »Ich habe definitiv nicht das Vergnügen, Sie zu kennen oder irgendwann schon einmal gesehen zu haben.«
    Â»Das denken Sie auch nur!« Ihr Lächeln wurde etwas dezenter und ließ ihre veilchenrot geschminkten Lippen als Wunde zurück. »Darf ich mich für ein Minütchen zu Ihnen setzen?«
    Â»Nein, dürfen Sie nicht! Ich warte auf meine Regisseurin, und die ist schrecklich eifersüchtig, da können Sie was erleben!«
    Â»Sie erinnern sich also wirklich nicht! Ich helfe Ihnen mal ein bisschen auf die Sprünge.«
    Â»Bitte sparen Sie sich die Mühe!«
    Doch im selben Augenblick erkannte er, dass jeder Versuch, die Frau zu bremsen, sinnlos war.
    Â»Ich sag nur: Ljuben-Karawelov-Straße! Das ist die zwischen Graf-Ignatiev- und Nikolai-Pawlović- … Wie konnten die nur die schönen Rasenstreifen zubetonieren und Parkplätze draus machen, schrecklich!«
    Â»Da wohne ich«, stutzte Jordan.
    Â»Sag ich doch! Sie sind eigentlich mit meiner Schwester befreundet, mit Dida … Dida Dionissieva.«
    Der Name war ebenso selten wie seltsam; daher begann in seinem Kopf langsam eine Erinnerung aufzusteigen, aber so blass und bruchstückhaft, dass er hätte lügen müssen, sollte er Genaueres sagen. Er sah den Hof ihres Mietshauses. Einen heißen Sommertag. Die Disteln am Fuß der Umzäunung, in deren Köpfen Wespen summten. Er sah Didas Vater in Unterhemd und Holzlatschen, rot angelaufen vor Wut, und seinen eigenen Vater in Schlips und Kragen, wie er vor Unbehagen nicht aufhörte, seine Armbanduhr aufzuziehen. Didas Vater fuhr einen alten Opel, das war das einzige West-Auto im ganzen Viertel; sein eigener Vater hingegen hatte sich gerade einen russischen Wolga gekauft und mit professoraler Geistesabwesenheit nicht achtgegeben und den Kotflügel des Opels eingedellt.
    Â»Ich kann einfach nicht begreifen, wie Sie das fertiggebracht haben«, überschlug sich die Stimme von Didas Vater, »auf diesem kahlen Hof kommen zwanzig Autos und fünf Busse problemlos aneinander vorbei, und Sie …«
    Â»Im Rückwärtsgang«, klärte Jordans Vater den Geschädigten auf, selbst überrascht von seiner Ungeschicklichkeit. »Ich übernehme natürlich den Schaden. Alles, was die Werkstatt Sie kostet.«
    Jordan und Dida hatten sich in der Nähe hingehockt und beobachteten die Männer voller Neugier aus dem Schatten. Dida musste so um die acht Jahre alt gewesen sein, zwei, drei Jahre älter als er, und leckte an einem Lutscher aus Zuckerguss in Hähnchenform. Auf einmal stand sie auf, fasste ihn unmerklich an der Hand und zog ihn mit sich in den Keller. Ein feuchter, muffiger Geruch schlug ihnen entgegen mit Beimischungen aus Schimmel, Heizkohle und nicht geschrubbten Kohlfässern. Im Sonnenstrahl, der durch das kleine Oberlicht fiel, spielte golden der Staub. Von hier unten konnten sie nur noch die Beine ihrer Väter sehen, die sich mit wachsender Verbissenheit stritten.
    Â»Ich hab dich beobachtet«, sagte Dida, biss ein Stück von ihrem Lutscher ab, zerkaute es und schluckte es herunter. »Du bist nicht wie die anderen, du bist lieb und unerfahren …« Sie zog ganz leicht ihr Kleidchen hoch, unter denen ihre hausgestrickten

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