Seelenasche
erschien ihm besonders feierlich, ein Versinken des Tages voller Erleichtung. Als er seinen Lada zur Tanksäule bugsierte, überholten ihn zwei PS-starke Mercedes-Limousinen, die nicht eine Minute gewartet hatten. Zehn Männer der Marke »Schwerathlet mit schwarzen Anzügen und Totengräbermiene« sprangen heraus. Gewalt lag in der Luft, und obwohl alle Fahrer in der Warteschlange empört und wütend waren über so viel Dreistigkeit, zogen sie sich lieber schweigend in ihre Fahrerkabinen zurück. Es war an dieser Tankstelle schon mehrfach vorgekommen, dass Leute, die protestiert hatten, hier mit Schlagringen zum Schweigen gebracht worden waren. Auch Assen zuckte hilflos die Achseln. Ljuba lächelte ihm tröstend zu.
Gott sei Dank hatten auch die beiden Fahrzeuge der Luxusklasse ihm noch Treibstoff übrig gelassen, sodass er Tank und Plastikkanister mit der kostbaren Flüssigkeit füllen konnte. Nun war er so reich, dass er es sich gestattete, Ljuba in seinem stinkenden Bleibenziner bis vor die Haustür zu fahren. As sie ankamen, war die Stromversorgung gerade ausgeschaltet worden und das ganze Viertel um die Kirche Siebenheiligen versank wie eine Geisterstadt in tiefer Finsternis. Er parkte hinter der Kirche, deren bunte Glasfenster matt schimmerten im Abglanz der im Innenraum brennenden Wachskerzen. Assen seufzte gepresst. Nur jetzt nicht seinen Gefühlen freien Lauf lassen und ihr seine eigene Hilflosigkeit zeigen. Aber so ganz konnte er sich doch nicht beherrschen und ergriff ihre Hand. Sie war kalt und ungeschützt.
»Ich danke dir«, sagte er schlicht, »das war ein schwerer, aber wunderbarer Tag mit dir.«
»WeiÃt du, warum ich mich eigentlich mit dir treffen wollte?« Ihre Stimme kam aus dem Dunkeln. »Weil ich Angst habe, und das niemandem sonst sagen kann. Ich habe schreckliche, habe wahnsinnige Angst!«
14
In der Nachmittagshitze sahen die StraÃen niedergeschlagen aus. Auf dem Asphalt glänzten Pfützen aus Licht, in denen Trugbilder schimmerten, die aus einer anderen Welt zu kommen schienen. Die Stadt, betäubt und ausgelaugt, hielt Siesta. In ihrer Verlassenheit fiel auf, wie viele Fenster inzwischen vergittert waren, seit Einbrüche massenhaft an der Tagesordnung waren. Die anständigen Leute, dachte Assen bitter, lebten also hinter Gittern, die Verbrecher liefen frei herum. Und wenn man einen Einbrecher auf frischer Tat ertappte und sich tätlich gegen den Eindringling wehrte, konnte es sein, dass man wegen Körperverletzung ins Gefängnis kam oder dem Dieb Schmerzensgeld zahlen musste. So waren die Gesetze.
Ich werde gallig, dachte Assen enttäuscht, alles ist mir fremd geworden. Zurückgezogen in seinen eigenen Panzer, war er sich selbst zum Gefängnis geworden. Er ging am Universiada-Konzertsaal vorbei, dann am Polizeirevier. Sein Schritt verlangsamte sich, als würden Luft und Licht vor ihm immer dichter und schwerer passierbar. Bald war jeder Schritt eine Qual, weil er wusste, dass er ihn seiner persönlichen Niederlage näher brachte, dem Scheitern seines Lebens. Er war ja bereit, physischen Schmerz zu ertragen, wieder in Armut zu versinken, die Bürde seiner inzwischen achtzig Lebensjahre zu tragen; aber er wollte in diesem tückischen, erbarmungslosen und undurchschaubaren gesellschaftlichen Wandel doch wenigstens ein Letztes: seinen Stolz und seine Würde bewahren! Er hatte einen Anruf aus der Druckerei der Akademie der Wissenschaften bekommen. Die Stimme der Frau war respektlos und duldete keinen Widerspruch. Sie teilte ihm mit, der Druckerei-Direktor wolle sich mit ihm treffen, habe aber nur zwischen zwei und drei Uhr nachmittags Zeit. In der gröÃten Hitze, genau zu der Zeit, in der er gewöhnt war, auf seiner spartanischen Bettstatt ein Stündchen zu dösen.
In der letzten Nacht hatte er nicht einschlafen können und auf der Terrasse, wo es unter dem flimmernden Sternenhimmel von Simeonowo nach wilden Gräsern roch, bis zum Morgen in seinem Buch geblättert. Der Band sah immer noch respektabel aus mit seinem Kunstledereinband, nur der Titel kam ihm jetzt irgendwie oberflächlich und irreführend vor: Für und Wider der Demokratie . Ob das Buch wirklich verfrüht erschienen war, wie Ljuba meinte, oder zu spät, wie er meinte, weil nach dem Sturz des Kommunismus sogar eine Zeitung schon Demokratie hie� In diesem Buch gab es ganze Kapitel, die durch den Gang der
Weitere Kostenlose Bücher