Seelenasche
Dinge sinnlos geworden oder die übergangen worden waren. Inspiriert von den Gesprächen mit Professor Jowtschev, in denen sie immer zu überraschenden Einsichten gelangten, hatte Assen die These vertreten, dass die Partei â vergleichbar der Kirche â vom Staat getrennt werden musste, wenn der Sozialismus überleben wollte, und mögliche Mechanismen analysiert, wie dies zu bewerkstelligen sein könnte. So wie der Kapitalismus die Kirchen von der politischen Macht getrennt hatte, so müsse der Sozialismus seine Ideologie von der staatlichen Administration trennen. Diese Seiten waren vor dem 10.âNovember 1989 geschrieben, und damals waren sie kühn, ja gefährlich gewesen; doch als das Buch nach der Wiedereinführung des Mehrparteiensystems erschien, waren sie einfach überholt.
Es gab in diesem Buch aber auch Gedanken, die von den gesellschaftlichen Veränderungen, die sich unmerklich ins Leben der Menschen eingeschlichen hatten, selbst diktiert waren, und diese Ideen waren ihrer Zeit voraus. Assen hatte beispielsweise eine der grundlegenden Gefährdungen analysiert, die der Demokratie als Regierungsform innewohnten, und seine Vermutung geäuÃert, dass durch die jederzeit gegebene freie Wahlmöglichkeit der Pöbel in aggressiver Weise seine willkürlichen Launen über die rechtsstaatlichen Normen und Strukturen erheben und so die Demokratie in Anarchie verwandeln könnte, verbunden mit einer Vulgarisierung des Lebens durch primitives Streben nach schnellem Konsum und ungezügelter Bedürfnisbefriedigung. Seine sozialistischen Grundüberzeugungen hinderten ihn nicht daran, zu dem Schluss zu gelangen, dass wichtige gesellschaftliche Entscheidungen eben nicht vom ungebildeten Pöbel getroffen werden sollten, sondern von sachkundigen Eliten, die eine entsprechende Erziehung zu moralischem Handeln genossen hatten, ganz wie es Platons Modell der Aristokratie, der Herrschaft der Besten, entsprach. Eines der groÃen Defizite in der Geschichte des bulgarischen Nationalstaats war denn auch, dass es nie zur Entwicklung einer beständigen Aristokratie gekommen war, die nationale Werte und geistige Traditionen überliefern und verteidigen konnte. Infolgedessen war Bulgariens historische Entwicklung durch ständige Brüche gekennzeichnet gewesen, die bei jedem gewaltsamen Wechsel der Staatsführung eintraten und so auf dramatische Weise Kontinuität verhinderten. Wie in allem Guten und Schönen auf dieser mühsamen und beladenen Welt, so waren auch bei der Demokratie gerade ihre Vorzüge ihre verwundbarsten Stellen.
Da war auch noch, das spürte er, ein anderer Konflikt, der sich in der aufkeimenden Demokratie herausbildete. Um von den Veränderungen nicht nur zu wissen, sondern sie zu spüren, ihre Atmosphäre in sich einzusaugen, war er zu Anfang auf viele Demonstrationen gegangen, sowohl solche der Roten als auch solche ihrer unversöhnlichen Gegner, der »Blauen«. Was die Leute euphorisierte, war nicht nur die Versammlungsfreiheit an sich, auf der sie ungehindert ihre Meinungen und Gedanken kundgeben konnten. Was die geballte Menge da vor seinen Augen zusammenschrie, war auch die eingerostete, über Jahrzehnte unverändert gebliebene Pyramide der Macht mit Todor Shivkov an der Spitze, dem Politbüro, darunter dem Zentralkomitee, dann der Partei mit ihren Stadt-, Kreis- und Bezirkssekretären, die vor Ort schalten und walten konnten wie absolutistische Provinzfürsten. Entgegen dieser hierarchischen, vertikalen Machtstruktur spielte sich auf den »Meetings« so etwas wie die horizontale Macht der Gleichen ab, die ihrerseits allumfassend war durch die schiere Masse der Teilnehmer, die an ein und dieselbe Chimäre glaubten. Der Redner war Erster unter Gleichen; ihm wurde das zeitweilige Recht eingeräumt, für die Masse zu sprechen.
Auf diesen Versammlungen kamen sich Menschen näher, die einander vollkommen unbekannt waren und sich in der aufgeheizten Atmosphäre plötzlich näher fühlten als Verwandte, weil sie Gleichgesinnte waren und es wussten. Doch leider hatte ihre Einigkeit keine Chance gegen die bald aufbrechende ökonomische Ungleichheit, in Gang gesetzt nicht etwa durch normale marktwirtschaftliche Prozesse, sondern durch jene fünf oder zehn Prozent der Bevölkerung, die ihre alten Verbindungen nutzten, um Bulgarien und seine Betriebe und die Menschen mit ihren Ersparnissen
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