Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
gewissenlos zu betrügen und auszurauben, bis das Land entkräftet am Boden lag und sie hundert-, tausend-, zehntausendfach reicher waren als Otto Normalbulgare.
    Dieser lernte rasch, dass ein vollkommen verarmter Bürger wiederum unfrei war. Er war Sklave seiner staatsbürgerlichen Pflichten und zu arm, um seine Rechte wahrnehmen zu können. Auf diese Weise wurde die freie Gleichheit, die auf den Demonstrationen enthusiastisch begangen wurde, von der gesellschaftlichen Realität bald vollkommen ausgehöhlt.
    Benommen von der frühen Nachmittagsglut, hatte Assen inzwischen die Fabrik Elektron erreicht, hinter der der gewaltige Gebäudekomplex mit den Instituten, Hotels, Restaurants und Geschäften der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften aufragte. Dort befand sich auch die Akademie-Druckerei. Er schaute nach links und nach rechts, ob eine Straßenbahn kam, dann überquerte er die Gleise, hielt am Brunnen, um einen Schluck Wasser zu trinken, und ging dann auf der Schattenseite weiter – eine Wohltat, die ihm nun fast überirdisch vorkam. Das Büro des Direktors befand sich in der fünften Etage, aber der Aufzug war defekt. Als er oben ankam, empfing ihn die junge Sekretärin, die er an der Stimme sofort als die respektlos-freche Frau erkannte, die ihn angerufen hatte. Sie saß vor einer elektrischen Schreibmaschine und wedelte sich mit einem Pappordner Luft zu. Lippenstift und Nagellack waren so blutrot, als hätte sie gerade jemandem Zähne und Nägel ins Fleisch geschlagen. Obwohl er pünktlich kam, blaffte sie ihn an:
    Â»Herr Slatanov hat gerade eine Unterredung, warten Sie bitte draußen.«
    Im Korridor gab es weder Bank noch Stuhl, und so lehnte Assen sich erschöpft gegen den Heizkörper. Es wurde halb drei. Die Reinemachefrau, eine ungepflegte Frau in Arbeitskittel, wischte mit ihrem schmutzigen Lappen vor seinen Beinen herum, als wäre er gar nicht da, und der aus unzähligen Treppenhäusern wohlbekannte Alltagsgeruch aus feuchtem Staub und Reinigungsmittel stieg ihm in die Nase. Um fünfzehn Uhr erlaubte er sich, noch einmal seine Nase ins Vorzimmer zu stecken. Die Sekretärin wedelte sich noch immer mit dem Aktenordner Luft zu. Slatanov gab gerade einer höchst ansehnlichen jungen Dame mit glänzenden Augen und knappem Minirock beim Hinausgeleiten aus seinem Zimmer einen Handkuss.
    Â»Ah, Herr Weltschev, warten Sie bitte einen Augenblick«, hielt er Assen auf, der schon auf dem Weg zurück in den Flur war. Einige Minuten später brachte der Direktor die junge Dame zur Treppe. Sie stellte sich als Dichterin heraus, die Sponsoren für ihren neuen Gedichtband gefunden hatte. Sie sprach Dialekt, ihre Aussprache war weich. Ihr Lachen war ungezügelt und herrisch, so als verzeihe sie gerade dem ganzen Rest der Welt. Der Direktor küsste ihr zum Abschied nochmals die Hand.
    Â»Herr Weltschev, jetzt muss ich unbedingt etwas essen«, lächelte er säuerlich, »vor lauter Arbeit kommt man hier zu gar nichts.«
    Â»Entschuldigung, aber Sie haben mich für zwei Uhr bestellt, jetzt ist es drei Uhr durch!« Assen wies auf die Wanduhr.
    Â»Ja, Arbeit, Arbeit ohne Ende«, schwadronierte Slatanov weiter, glättete sein schütteres Haar mit einem kleinen Kamm, blies hinein, wischte mit Daumen und Zeigefinger darüber und verstaute ihn wieder in seiner Sakkotasche. Dann bat er Assen, ihm ins Lager zu folgen. Drinnen war es düster, das Licht fiel nur spärlich durch die vergitterten Fenster. Es roch feucht nach Souterrain, nach Druckerschwärze, schlechtem Papier und erniedrigten Büchern, nach geistiger Gewalt. Nach Sprachsterben. Sie hielten vor einigen randvollen Paletten in der Ecke, die sichtlich vergessen und verwaist waren. Darauf die ganze Auflage von Das Für und Wider der Demokratie .
    Â»Fünftausend Auflage hatte Ihr Meisterwerk«, sagte Slatanov mit schadenfrohem Unterton, »verkauft sind ganze ein-hundert-und-sechzig davon, obwohl die Buchhändler von mir den doppelten Handelsrabatt bekommen, nicht zwanzig, sondern vierzig Prozent. Die will einfach keiner, Ihre Demokratie, nicht mal auf Kommission …« Er schnalzte mit der Zunge und spuckte auf den Boden. Setzte ein Lächeln voll spöttisch imitiertem Mitgefühl auf. »Sagen Sie mir, was ich mit den restlichen viertausendachthundert-und-ein-paar-zerquetschten Exemplaren machen soll?« Er zog erneut seinen kleinen Kamm,

Weitere Kostenlose Bücher