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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Außer nach muffigem alten Papier roch es in dieser Kanzlei nach Bohnerwachs.
    Â»Nun, Sie werden leicht ersehen, dass ich diese schwerwiegende Angelegenheit, die ich durch all die Jahre der … nun, Sie wissen schon … geheim zu halten hatte, nun nicht ausgerechnet mit Ihrem fanatischen und cholerischen, pardon!, Lapsus Linguae, Ihrem etwas eigenwilligen Herrn Vater besprechen wollte.«
    Er renkte sich krachend die Fingergelenke ein, dann holte er aus der Innentasche seines Sakkos einen gewaltigen Schlüssel. Bald drehte sich das Ungetüm knirschend im Schloss, und die Tür zum Safe ging knarrend auf. Gleich einem Alchimisten holte Schuschulkov daraus eine vorsintflutliche, mit Samt bezogene Kassette heraus, die von Zeiten zeugte, die selbst Krum Krumovs Vater nicht mehr gekannt hatte. Er trug sie zum Schreibtisch hinüber, als enthalte sie Nitroglyzerin, und stellte sie vorsichtig darauf ab. Sein linkes Auge blieb darauf gerichtet, die Pupille seines rechten Auges aber bewegte sich suchend zwischen dem Lichtschalter in der Ecke, gleich unter den Spinnweben, und dem Zeitschriftenausschnitt mit den Niagarafällen hin und her, bevor sie auf Krum zur Ruhe kam. Da aber begann sein anderes Auge zu springen und landete auf dem matten Globus des Lampenschirms. Schuschulkov leckte sich die Lippen und … endlich war wenigstens dieser Krümel verschwunden!
    Â»Sie haben ja keine Ahnung, was sich in dieser Kassette verbirgt«, bereitete der Jurist Krum schonend auf das Kommende vor, »und wie sollten Sie auch? Sie waren ja damals kaum auf der Welt. Ach ja, tempora mutantur, Herr Marijkin, et nos … et nos mutamur in illis! Dabei ist das, was sie enthält, mit so viel Vergangenheit … so viel zukunftsträchtiger Vergangenheit … Verstehen Sie?«
    Â»Nein.«
    Â»Wie sollten Sie auch? Sie waren ja damals … Ja, wie doch die Zeit vergeht, die Zeiten sich wandeln, Herr Marijkin. Und während dieser ganzen Zeit hat mir der Inhalt dieser Kassette auf der Seele gelegen.«
    Er wartete einen Moment, um sich am rhetorischen Glanz seiner eigenen Worte delektieren zu können. Krum begann sich zu langweilen. Er zog den Aschenbecher zu sich heran und klopfte eine Filterlose aus dem Paket. Wegen der permanenten Geldnot zu Hause war er zu den allerbilligsten Billigzigaretten übergegangen, schwarz und stark wie die französischen Gauloises. Schuschulkov schaute ihn missbilligend an, enttäuscht, dass Krum es an der gebotenen Wertschätzung, der erwarteten, gespannten Aufmerksamkeit fehlen ließ. Er hüstelte, nestelte seinen Krawattenknoten zurecht, ließ nun die Fingerknochen der anderen Hand krachen und erzählte ihm dann mit seiner Wispermann-Stimme eine unglaubliche, geradezu phantastische Geschichte, die Krum anfangs wie ein naiv zusammengeträumtes Märchen vorkam, aber ihm im Verlauf des Erzählens immer wahrscheinlicher vorkam, bis er sie am Ende glaubte und – erstarrte. Nicht aus Verblüffung oder übergroßer Freude, sondern aus Angst. Grundloser, an Entsetzen grenzender Angst. Schuschulkov beobachtete ihn aufmerksam und lächelte zufrieden.
    Â»Und all das ist Wort für Wort wahr«, schloss er und tippte mit den Fingerspitzen auf die Kassette vor sich. »Die Dokumente sind hier drin. Jetzt heißt es: Sich ein Herz fassen – oder auch sapere aude, wie der Lateiner sagt. Wollen Sie sie sehen?«
    Â»Tja, ich weiß nicht … eigentlich … eigentlich nicht.« Krum konnte seine Scham nicht verbergen, den Widerwillen, der ihn überkommen hatte, sich dem, was er soeben gehört hatte, und der entsetzlichen Angst, die es ausgelöst hatte, zu unterwerfen.
    Â»Dann heißt es advocatum confidentiae, Herr Marijkin, schenken Sie mir Ihr Vertrauen, damit wir alles in die Wege leiten können.«
    Schuschulkov holte irgendwo eine Nagelfeile her und begann sich die Nägel zu reinigen. Es war quälend, ihn dabei zu beobachten, weil sein eines Auge auf seine Fingerspitzen konzentriert war, während das andere durch die ganze Kanzlei schweifte.
    Â»Ich werde darüber nachdenken«, brachte Krum schließlich mit Mühe heraus.
    Â»Bitte bedenken Sie nur: Jede Zeitverzögerung kann sich als fatal erweisen. Passen Sie auf, dass Sie keinen Fehler machen, Herr Marijkin.« Der alte Anwalt rutschte ungeduldig auf seinem altmodischen Stuhl herum. »Memento mori, Herr Marijkin, will sagen, auch ich bin

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