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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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überstanden, alles Vergessen, den sauren Regen und den ätzenden Atheismus. Ja, sie wurde das Gefühl nicht los, dass das, was sie hier in die Granitfundamente einer Grabarchitektur legten, die so zusammenhanglos im Raum stand wie das bulgarische Leben und Streben überhaupt, nicht ihr Mann war, sondern die Zeit: eine Epoche fortwährender Umbrüche und Veränderungen, Leiden und Enttäuschungen, konterkariert von aufkeimenden Hoffnungen, übertriebenem Glauben und bohrenden Zweifeln. Es war doch so: Dieselben schlichten Gemüter, die 1943 den Sarg mit dem volksnahen Zaren Boris III. auf seinem letzten Weg in die vorbereitete Gruft im Rila-Kloster geleitet und untröstlich um ihn geweint hatten, standen sechs Jahre später genauso untröstlich am Zug, mit dem die sterblichen Überreste des Zarenvertreibers Georgi Dimitrov ankamen. Beide Idole waren eines geheimnisvollen Todes gestorben, was ihrer Phantasie endlos Nahrung gab. Nun würden ebensolche Leute öffentlich den langjährigen Alleinherrscher Todor Shivkov verdammen und verfluchen, aber insgeheim um ihn trauern und ein Tränchen vergießen, weil in Erinnerung an die Sicherheit, die sie mit ihm verloren hatten, sein ganzes Leben und Wirken in viel hellerem Licht erschien. Schon wieder war Bulgarien bis zur Unkenntlichkeit verändert; es war … wie immer!
    Die Totengräber warfen sich die Schaufeln und Halteseile mitsamt ihrer Gleichgültigkeit über die Schultern und gingen. Sogar der Wind verhielt in den Blättern und verging. Sonja sprengte Wasser und Wein über das Grab und goss auch etwas von Georgis geliebtem Metaxa in zwei Plastikbecher, um zum Abschied noch ein letztes Mal auf ihn anzustoßen. Sie wagten nicht, sich in die Augen zu schauen. Beim Anblick der Tristesse ringsum musste sie weinen. Der Engel, auch er flog nicht auf mit seinen steinernen Flügeln.
    Â»Darf ich Sie nach Hause bringen?«
    Â»Nein.« Ihre Stimme klang streng und kalt, als habe er ihr ein unsittliches Angebot gemacht. »Ich möchte jetzt allein bleiben. Aber danke, dass Sie gekommen sind.«

Drittes Kapitel
1
    Nachdem sich herausstellte, dass die »gesunden« Kräfte in der zerfallenden Sowjetunion die Lage nicht mehr unter Kontrolle hatten und der dem Alkohol zugetane Boris Jelzin diese »mächtige Stütze und Hoffnung der Menschheit« auf ein einfaches, elendes und leidgeprüftes Russland herunterregiert hatte, musste Krum Marijkin sich entweder mit der Lage abfinden oder sterben. Er tat von beidem etwas, verstummte vor der Unabänderlichkeit der alles niederwalzenden Ereignisse und bekam seinen zweiten Schlaganfall, der sein Sprechvermögen erneut stark beeinträchtigte und seine rechte Gesichtshälfte verzerrte. Nun glich er völlig seinem verhassten Vater, dem Fabrikanten Ilija Weltschev. Krum hatte auch zuvor schon wenig gesprochen, doch nun erstarrte seine ganze Ablehnung der über ihn hereinbrechenden Umwälzungen in einem maskenhaften Grinsen voller Häme, der Grimasse seiner Verachtung für diese gedemütigt in ihren Untergang eilende »zweite« Welt.
    Seine Frau Newena, die ihn besser kannte als sich selbst, umsorgte ihn mit der unerschöpflichen Geduld, Hingabe und Strenge einer Mutter. Sie hatte ihm die Zigaretten verboten und vor allem die Zeitungslektüre! Sie schaltete den Fernseher aus, wenn die Nachrichten anfingen, und hatte den alten Koitschev gewarnt, doch bitte kein dummes Zeug zu reden, sprich: über Politik. Koitschev war blass geworden nach der Wende, hatte stark abgenommen und sich wieder der Malerei zugewandt, nur dass er statt visueller Agitation das genaue Gegenteil auf den Malgrund zu zaubern versuchte, die Donau in ihrer Größe und ewigen Weisheit. Heraus kamen steife Gemälde, auf denen sich das Licht durch einen farblosen, erstickenden Nebel quälte. Die Bäume sahen unwirklich aus, der Fluss stand auf der Stelle. Koitschev kam fast jeden Tag, um mit Krum Schach oder Belote zu spielen. In seiner Zeit als Sekretär im Bezirkskomitee der Partei hatte Koitschev sich eine Menge Anzüge schneidern lassen; die trug er jetzt auf. Krum ärgerte sich über diese bizarre Unangemessenheit seiner Kleidung, ließ sich aber dazu herbei, ihre von Koitschevs Karrierejahren unterbrochene Freundschaft wiederaufzunehmen, weil jetzt alle in der Stadt dem alten »Parteikader« voller Verachtung aus dem Weg gingen und er restlos

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