Seelenasche
fällender Baumriese, der, mit der Axt eingekerbt, umgedrückt werden muss. Manchmal, wenn der Ãberdruss bis zum Erbrechen in ihm angewachsen ist, mag er sich sogar vorstellen, an einer entscheidenden Schlacht teilzunehmen, oder er mag in seinem Felsen den Widerstand einer Frau sehen, die er um jeden Preis erobern will, vielleicht auch einen Menschen, der ihn verraten hat, und den er nun in den Abgrund stoÃen will. Was für eine unendliche Vielzahl unterschiedlicher Stoffe kann sein einmal gewecktes Hirn sich ausdenken, wie viele verschiedene Rollen kann er selbst dabei spielen, wie viele Möglichkeiten der Vergeltung tun sich auf! Kurz: Der Felsbrocken hat sich auf einmal von einem brutalen Instrument der totalen Verblödung, Abstumpfung und Entpersönlichung gewandelt zum Katalysator von Ereignissen.
Wenn wir uns die Rachsucht der altgriechischen Götter vor Augen halten, können wir uns vorstellen, wie öde und eintönig auch die Landschaft sein muss, in der Sisyphos seine Arbeit verrichtet, wie ermüdend gleichmäÃig und langweilig bis zum Verrücktwerden das Licht, das gleichsam nur ein Teil der Luft ist. Aber auch das kann mich in meinem Glauben an Sisyphos nicht erschüttern! Er kann ja zur Abwechslung die Augen schlieÃen oder sie so fest zusammenkneifen, dass das Licht beim abrupten Ãffnen auf einmal gleiÃend erscheint, bewegt, fast blühend. Früher oder später wird er auch auf die Idee kommen, einen Feuerstein aufzulesen und mit diesem aus seinem Felsblock Funken zu schlagen; ein extrem kurzes, aber dafür intensives Aufglühen, das genügt, um eine Unzahl von Vergleichen in seinem rastlos tätigen Hirn zu erzeugen: ein Blitz am Himmel, eine Narbe, ein Stachel, ein aus dem Holzfeuer platzender Funke, die gespaltene Zunge einer Schlange, ein stechender Schmerz, ein Sonnenreflex auf dem Wasser, eine Ejakulation ⦠Dieser eine Funke erinnert ihn an Hunderte gesehener Bilder. Ja, jedes neue Erklimmen des Lebenshügels ist zugleich Wiederholung, Ãberwindung von Ungewissheit, Begegnung mit etwas noch nicht Erlebtem, ist Entdeckung und geistige Entwicklung.
Doch bis hierhin haben wir noch nicht das Unglaublichste berührt, das groÃe Geheimnis des Sisyphos: Er hat ein Ziel! Sicher, er ist verdammt dazu, in qualvoller Anstrengung seinen Felsen zum Gipfel hinaufzuwuchten, um jenen einen Moment der Freiheit zu erleben, jenen Moment des Triumphes, der Euphorie und des Rausches der erreichten (An-)Höhe. Der Felsbrocken, den Sisyphos zu hüten hat, ist jetzt nicht mehr der tote Stein, der er am FuÃe des Berges noch war, sondern bereits der verdoppelte, sublimierte, vergeistigte Stein, weil er einen Traum, eine Sehnsucht, eine Vision in sich aufgenommen hat. Der Stein hat sich erfüllt, sich verwirklicht durch die geleistete Arbeit, die durchlebten Gefühle und Imaginationen, und ist daher nicht mehr ganz so leblos, wie er unten war, sondern â ein nach MaÃgabe einer menschlichen Projektion behandelter und durch sie belebter Gegenstand. Darüber kann auch seine frustrierende Einförmigkeit nicht hinwegtäuschen. Dieses Ziel motiviert Sisyphos nicht nur, es ist auch unterhaltsam, weckt Leidenschaften; die Leidenschaft der Selbstüberwindung aber ist der beste Balsam gegen die Einsamkeit. Die Nähe des Gipfels bringt ihn aus der Fassung. Seine Erschöpfung wird immer unerträglicher, sein Atem keuchender, sein (unsterbliches) Herz will zerspringen. Doch er eilt! Er eilt, besessen von der einzig wahren menschlichen Ekstase, dem angeborenen Drang nach Selbstüberwindung bis zum Sieg, muss sich gar selbst zur Ruhe ermahnen, zur Selbstbeherrschung.
Ist er endlich oben angekommen, fällt die ganze Anspannung in sich zusammen, wird Sisyphos beinahe ohnmächtig vor Glück und Erschöpfung. Er hat vor allem zum wiederholten Mal standgehalten, hat den Widerstand der Schwerkraft besiegt, den unhandlichen, einförmigen Stein, die Trägheit seiner Muskulatur, die drohende Gefahr, dass sein gepeinigter Geist in MittelmäÃigkeit versinkt, und ⦠die Sinnlosigkeit! Sisyphos und sein Stein befinden sich für einen Moment in einem trügerischen Gleichgewicht. Doch da gerät der Stein ins Wanken, verliert sein Selbstverwirklichtsein. Ins Wanken gerät auch die Wahrheit über Sisyphosâ Sieg. Denn: Was hätte er gemacht, wenn der Stein oben liegen geblieben wäre?
Ein Ziel kann man ins Auge
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