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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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leicht, eine Andeutung nur.
    Â»Und dir wollte ich schon lange sagen …« Sie unterbrach ihren Satz, um nachzudenken und die taktvollste Formulierung zu finden, doch die Erschöpfung machte ihr einen Strich durch die Rechnung. »Du solltest Kinder haben, Liebes. Simeon ist so begabt, so begnadet, hat so viel Zukunft, ihr werdet es schon irgendwie schaffen, auch in diesen Zeiten.«
    Â»Oh«, errötete Dessislava, »ich denk mal drüber nach.«
    In diesem Moment ging die Tür auf und Christo kam im Hemd herein. Auf einem Tablett brachte er die Spritze, die Injektionsnadeln und die Ampullen; das Ganze sah aus wie ein feines Folterinstrument.
    Â»Mama, stell dir vor, Dessi hat mir heute Schuhe für jeden Anlass gekauft.«
    In seinen Augen sammelte sich die ihr so bekannte schwarze Melancholie. Seine Mutter wandte sich Dessislava zu und sagte mit einem Versuch, zu lächeln:
    Â»Ich danke dir, mein Engel, vor Zerstreutheit wäre mein Sohn noch barfuß auf die Straße gegangen. Aber jetzt geh nach drüben ins Wohnzimmer, er muss mir die Spritzen setzen … ein paar Stunden Abwesenheit, Vergessen und bunte Träume.«
    Christo zog sie hinaus. Diesmal ging sie vor ihm, spürte aber trotzdem seine Beklemmung und Betrübnis. Im Wohnzimmer angekommen, schien er sich vor Unbehagen an der Luft, an den Möbeln, an allem zu reiben. Schließlich rieb er sich die Hände, machte trotz der fortgeschrittenen Dämmerung das Licht aus, so als könne dann niemand Unbefugtes mithören, und sagte entschuldigend:
    Â»Sie ist sehr krank, Dess.«
    Â»Und ein ganz wunderbarer Mensch«, erwiderte sie.
19
    Als Christo hinausgegangen war, stand sie auf und schaltete als Erstes das Licht wieder ein und fischte sich eine seiner Gauloises aus der Packung. Inhalierte. Hustete. Sie hatte sich zu diesem dreisten, riskanten und ihren guten Namen gefährdenden Treffen entschlossen, um ihrem Vetter von Majas von Hoffnungen und möglichen Enttäuschungen begleiteter Idee zu erzählen, im aufgelassenen Museum der revolutionären Bewegung Bulgariens, in dem einst die pompösen und mythisierten Symbole revolutionären Geistes ihr Zuhause hatten, ein Theater zu eröffnen. Ironie der Geschichte war, dass genau dieses geplünderte Haus des revolutionären Sozialismus nach dem Ende desselben ein revolutionär gegenwärtiges Theater werden konnte, wie Maja ganz richtig erkannt hatte. Von Christo erhoffte sie sich, dass er Empathie für die Sache zeigte, sie im administrativen Bereich beriet und … mit Geld aushalf. Eigentlich war das Geld das Wichtigste, aber das war so klar, dass sie es wohl gar nicht eigens zu erwähnen brauchte. Jetzt, wo seine sterbenskranke Mutter wieder zu Hause war, war es geradezu pervers, von Geld zu reden, und eigentlich war es auch nicht sehr schön, Theaterpläne zu erörtern.
    Sie ließ sich in den Sessel fallen, zog den Aschenbecher zu sich heran, starrte auf das leere Gesicht des Fernsehapparats und … wartete. Der Gedanke, dass im Kofferraum seines riesigen BMW fünf Paar Schuhe und Stiefeletten auf sie warteten, gab ihr einen Vitalitätsschub, doch der hielt nicht lange vor. Sie wollte die Sache überstürzen zu einem Zeitpunkt, zu dem es vielleicht schon zu spät war. Und nun war sie einfach tieftraurig über das Los, das ihre geliebte Tante Ljuba ereilt hatte, und befremdet über diese seltsamen Dinge, die mit Christo vor sich gingen. Dies alles machte sie weich, schwach und anfällig.
    Auf dem Beistelltischchen neben ihr hatte jemand ein Schreibheft hingepfeffert. Sie öffnete es. Nanu, das war doch die kantige, beinahe gotische Handschrift ihres Vetters? Und mit dieser Handschrift waren viele, viele Seiten gefüllt. »Sisyphos« lautete die Überschrift. Hm. Sie wurde neugierig und … fragte nicht lange, ob sie das lesen durfte oder nicht, sondern begann einfach. Vielleicht stand darin ja …
    Â 
    SISYPHOS ODER DER ANGEHALTENE HORIZONT
    Â 
    Ein Versuch über Vollendung und die Unmöglichkeit der Selbstverwirklichung
    Â 
    Sisyphos fordert die Götter heraus, indem er sich weigert, zu sterben und – nachdem er Hades durch eine Ausrede entkommen ist – wieder in die Unterwelt zurückzukehren. Die Götter bestrafen ihn mit einer Allegorie des Endlosen: Er muss in der Unterwelt unaufhörlich einen schweren Felsen einen Hang hinaufrollen. Kurz bevor er den Gipfel

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