Seelenasche
fassen, es anstreben, es ersehnen, seine Kräfte an ihm messen, doch nur, solange es noch unerreicht ist! Der Stein als realisierte Idee, erreichtes Ziel wäre also ohnehin verloren gewesen für Sisyphos und bald schon lästig gewesen als zu Ende erlebtes Abenteuer, errungener Sieg, der nicht weiterführt.
Nun also poltert der gewaltige Felsblock wieder zu Tal, wird kleiner, gleichsam leichter, bis er aus dem Blickfeld des Sisyphos entschwunden ist. Wenn dieser zu Tal getrottet ist und ihm erneut begegnet, wird der Stein von allen Projektionen gereinigt sein. Befreit von Bedeutung, ist er wiederum nichts als ein grober Klotz aus schwerer Materie, der seinen Geist vor eine vollkommen neue Herausforderung stellt, seine Moral vor die nächste ungeheure Disziplinierungsanstrengung. Ich sehe Sisyphos in diesem Moment lächeln, dankbar über sein Los. Glückliche Erleichterung erhellt sein Gesicht. Es ist das Gesicht eines vollkommen freien Menschen, der weiÃ, dass das Glück zwar ausbricht im Moment der Erfüllung, aber durchlebt wird es im Streben danach, im demütigenden Kriechen aus der Talsohle nach oben. Es ist Ausdruck der Freude darüber, dass die titanische Anstrengung nicht vergeblich war, aber auch der Erkenntnis, dass im Moment der Erfüllung ein neuer Anfang begründet liegt, der das » Projekt Unsterblichkeit« fortzusetzen erlaubt, und für Sisyphos so etwas wie eine Wiedergeburt, eine Neugeburt ist.
Im Abstieg hat Sisyphos Zeit, sich körperlich zu erholen, geistig aber: neue Ideen durchzuspielen. Genau diese Zeitspanne, in der seine Kräfte nicht restlos eingespannt sind, konzentriert auf die physische Arbeit, muss er nutzen, um sich sein neues Sujet auszudenken mit all den vielen spannenden peripetischen und retardierenden Momenten der Fabel, die ihm helfen werden, die frustrierende und demoralisierende Eintönigkeit der Wiederholung in eine spannende Entdeckungsreise zu verwandeln. Er ist nun, wo er auch seinen Widerpart, den Stein, nicht umklammert hält, vollkommen einsam, aber ⦠nicht verzweifelt! Seine Einbildungskraft arbeitet auf Hochtouren, ein Generator, der ihn von innen heraus leuchten lässt. Da sagt er sich: Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Stein zu lieben; nur dann werde ich wieder und wieder Neues an ihm entdecken! Es mag unglaublich klingen, aber in dieser Zeit, in der das Echo der Schritte des Absteigenden widerhallt, füllt sich Sisyphos mit Liebe!
Diese wachsende Liebe des Sisyphos zum anfangs so verhassten Felsen ist interessant. Woher kommt sie? Zum einen vermutlich daher, dass Sisyphos beim Abstieg seine reale Macht über den Stein ja verloren hat, was ihn provozieren muss, sie wiederzugewinnen. Die Zwangspause, in der die Trennung von seinem Stein ihn versetzt hat, bringt sein Gemüt durcheinander, weil er von der totalen Fülle plötzlich in der totalen Leere angelangt ist. Er hat ja nichts zu tun! Und sein Stein ist der absolut einzige ihm verfügbare Gegenstand, mit dem er » kommunizieren« kann. Denn so tot und sprachlos dieser auch sein mag: Sisyphos kann ihn hassen, ihn provozieren, ihn streicheln oder tadeln, sich ihm anvertrauen, glauben, dass er ihn für immer behält oder â ihn ein für alle Mal über den Hügelkamm fortstöÃt! Wie auch immer: Der Stein des Sisyphos kann nicht ganz und gar nichts und niemand sein: Wer Widerstand leistet, der ist auch anwesend, wer beim Rollen, Klatschen, Kratzen und Reiben Geräusche von sich gibt, der hat auch Stimme, und wer so antwortet, der muss auch eine Form von Bewusstsein haben. Auf all diese Weisen erleichtert der Fels dem Sisyphos die Einsamkeit, ist nicht nur Objekt, sondern auch Orientierungspunkt in der Zeit, der Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft scheidet, in der jede Wiederholung einen eigenen Punkt hat. So wird aus dem primitiven Mineralgemenge sukzessive ein Instrument von intellektueller Kraft, das nun seinerseits Sisyphos hilft, sich zu verwirklichen. Am Ende ist der Stein, der unten in der Niederung auf ihn wartet, alles Bevorstehende für Sisyphos: ungelebte Lieben, künftige Gemahlinnen, ungeborene Kinder, Freundschaften und Verrat, unzählige Begegnungen und Trennungen â und Sisyphos beginnt, Zärtlichkeit für sein Leiden zu empfinden. Ohne die erdrückende Schwere des Brockens würde Sisyphos seinen Bewegungssinn einbüÃen, würde selbst schwer werden wie ein Stein, und
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