Seelenasche
ebendies gibt uns das Recht, zu verallgemeinern, dass der Fels Leben spendet und die einzige Möglichkeit für Sisyphos darstellt, wirklich unsterblich zu werden.
Man kann also sagen: Er hat seinem Quälerich nicht nur längst verziehen, er macht sich auch bereits Sorgen um ihn. Mit wachsender Unruhe geht er ihm entgegen, hat Angst, es könne ihm etwas passiert sein! Wer weià denn, ob die Götter in ihrer Rachsucht, nachdem sie das Spiel eine Weile verfolgt haben, ihn nicht verstecken, entwenden, oder ihn einfach durchhauen? Bei dieser Vorstellung steigen Entsetzen und Verzweiflung in ihm hoch, denn wenn das wirklich passieren sollte, dann, ja, dann wäre er wirklich einsam und verlassen.
Ich sehe ihn geradezu vor mir, wie er unten ankommt mit seinen fertigen Plänen, Drehbüchern, Szenenfolgen, Bildern im Kopf, die ihn mit schöpferischer Vorfreude erfüllen. Sehe, wie er stehen bleibt, das schneidende Fleisch, die erstarrte Haut des Steins tätschelt, als wärs ein treuer Ackergaul. Dann packt ihn schon die wachsende Spannung des Erfinders, der Lunte riecht, des schwärmerischen Träumers, und er kann die ruhige Verschlafenheit seines steinernen Gesellen schon nicht mehr ertragen. Zeit, ihn aus dem Dämmer zu wecken, seiner Verwirklichung entgegen! Das Ziel â hoch über ihm; der Stein vor ihm das einzige Mittel, es zu erreichen. An ihm gilt es, sich abzuarbeiten, ihn gilt es, von einem zufälligen Stück Natur ohne Lebenshauch zu verwandeln in etwas Inspiriertes, von Träumen Erfülltes. Und so Augenblick für Augenblick bis in alle Ewigkeit, solange es ein Ich gibt und ein Du, die aus sich heraus die ganze Menschheit symbolisieren!
Paradox, aber wahr: In der Zeitlosigkeit der Ewigkeit reifen Veränderungen heran. Auflösung des Paradoxes: Sie betreffen nicht das Sichtbare, sondern nur das Geistige. Im geistigen Raum gewinnt der Stein gleichsam an Gewicht, der Gipfelpunkt erscheint höher und ferner, Sisyphos geduldiger, ausdauernder und weiser. Und nun frage ich, wer lacht nun zuletzt: die Götter oder Sisyphos? Er ist ihnen doch zumindest gleich! Die Götter, so verblüfft und aufgebracht sie auch sein mögen, was sich aus ihrer Rache entwickelt hat: Ihnen sind die Hände gebunden, sie können die auf ewig ausgesprochene Strafe nicht plötzlich suspendieren und Sisyphos den Stein wegnehmen, denn dann würde die Zeit stehenbleiben.
Und doch: Nehmen wir an, sie kommen darauf und bestrafen ihn mit der absurdesten Grausamkeit, die man sich vorstellen kann â dass nämlich der Felsbrocken, nachdem Sisyphos ihn emporgewuchtet hat, oben am Gipfel liegen bleibt unter einem leeren Himmel ohne Vögel, ohne Wolken, im Ozonhauch der Ewigkeit â¦
Sisyphos wird zunächst verblüfft sein, dann erschrocken, dann besinnungslos vor Angst. Da hat er seinen Sieg, seinen Erfolg, sein erreichtes Ziel, aber ⦠es rührt sich nicht mehr. Es rührt sich nichts mehr. Es ist â wie gewonnen, so zerronnen! Da leckt er sich über die ausgetrockneten, gesprungenen, zerbissenen Lippen, schaut sich um in der Landschaft ⦠Nichts hat sich darin verändert. Doch, eines ⦠eines hat sich verändert: Der Stein ⦠Er ist auf einmal nicht mehr unten, sondern oben zur Ruhe gekommen. Sisyphos kommt eine ungeheure Erleuchtung: Er schaut den Hang hinab, an dem er eigentlich jetzt den Felsen hätte hinabrollen sehen müssen, und da erkennt er, was anders ist: Auf einmal befindet sich sein Ziel unten! Er spannt die Schulter, legt sie an den Stein, versetzt ihn ins Schaukeln und ⦠stöÃt ihn den Abhang hinunter, hinab zum Gipfel! Rumpelnd kullert der massige Block hinab, Sisyphos folgt ihm mit Bildern der Jagd und der Verfolgung im Kopf, erreicht ihn schlieÃlich im Tal, tätschelt ihn mit schwieliger Hand, verschnauft, macht sich bereit; denn nach einer Weile nur muss er ihrer beider Einsamkeit erneut überwinden und mit seinem Gegenüber den Weg, den Rückweg zum Gipfel antreten. Da, er lächelt. Lächelt das schiefe Lächeln dessen, der auch diesmal einen Ausweg gefunden hat. Sisyphos wischt sich die verschwitzte Stirn ab und stöÃt einen markerschütternden Schrei aus, der mir schon bei der bloÃen Vorstellung eine Gänsehaut über den Rücken jagt. Dieser Schrei besagt in Worten vielleicht: » Den Göttern sei Dank, die mir ewige Wiedergeburt geschenkt haben!«
So ward aus
Weitere Kostenlose Bücher