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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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jedes Zurückrollen des Steins vom Gipfel zurück ins Tal Ausgangspunkt für ein neues Menschenleben, einen neuen Aufstieg, einen neuen Erfolg. Das ganze Paradox unserer Hoffnung auf Unsterblichkeit, die mit der Erkenntnis unserer Sterblichkeit geboren wird, ist dem Drama des Sisyphos, seinem Leiden inhärent; Einmaligkeit des menschlichen Lebens und sein endliches Scheitern treffen mit dem Streben nach Glück und Unsterblichkeit zusammen.
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    Verwundert blickte Dessislava von dem Heft mit den gemeißelten Zeilen auf, legte es ab, rieb sich die Augen und griff zur nächsten Zigarette. Was hatte Christo mit Sisyphos zu schaffen? Hatte er vielleicht einen Stein vor sich herzurollen? Sie spürte, dass sich in ihrem Kopf keine Antwort einstellte, und las weiter.
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    Um der Vertracktheit des dramatischen Schicksals von Sisyphos auf die Spur zu kommen, muss man drei Phasen seiner endlosen Anstrengung unterscheiden und analysieren: Aufstieg, Ankunft und Abstieg/Herabrollen des Steins. Anders lassen sich die subtilen Beziehungen unter ihnen nicht aufzeigen, und auch nicht die Ästhetik eines Akts, der vonseiten der Götter nur als Akt der Vergeltung, als Lehrstück gedacht war, dass menschliche Unersättlichkeit immer in Sinnlosigkeit endet.
    Am Fuß des Berges sehen wir Sisyphos erschöpft, schnaufend, auf den unförmigen Felsbrocken starrend, an dem es keine Stelle gibt, die er nicht schon ungezählte Male angeschaut, berührt, vor sich hergeschoben hätte. Am besten aber kennt er das Leiden, das dieser Brocken als Ganzes ihm verursacht mit seiner übermenschlichen Schwere und unnachgiebigen Härte, der im Augenblick der Anspannung alles für ihn ist: Landschaft, Widerstand, Herausforderung, bis zum Überdruss bekannte Vergangenheit, aber auch Vorgeschmack auf unerforschte Zukunft. Was Sisyphos nach meinem Gefühl am meisten zu schaffen macht, ist, dass er keine Möglichkeit hat, den Stein zu wechseln. Dieses Immergleiche an Schwerkraft, das auf seinen Schultern und seiner Seele liegt, das macht den Stein für Sisyphos zu einem so perfiden Folterinstrument. Er hat also nur einen Ausweg: Er muss vergessen, dass er seine Last bereits ungezählte Male den Hang hinaufgewuchtet hat, und durch pure Einbildungskraft Veränderung und Abwechslung schaffen. Das ist meines Erachtens das Bemerkenswerte: Sisyphos träumt gar nicht davon, es möge leichter für ihn sein. Er strebt also auch nicht danach, seine Bewegungen mechanisch zu vervollkommnen und so zu optimieren, dass ihm der steile Weg zum Gipfel möglichst wenig Mühe macht, nein, er sehnt sich nach Abwechslung! Er martert sein Hirn, um der Wiederholung neue Nuancen abzuringen. Dies bringt ihn in die Nähe des Illusionisten und Zauberers, des Varietékünstlers und Zirkusakrobaten, des Alchimisten und Auguren, des Erfinders, der am Perpetuum mobile arbeitet. Er schiebt seine Last mal mit der Brust, mal mit dem Rücken, mit Schultern, Oberarmen und Handballen, kratzt mit den Fingernägeln, schlägt seine Zähne in eine Felskante, und diese kleinen Abwechslungen, die ihm vor dem Hintergrund der absoluten Eintönigkeit unermessliches Vergnügen machen, müssen dem naiven Betrachter erscheinen wie Zeichen wilder Verzweiflung und furchtbarer Qual. Die Wiederholung erlegt ihm also zwar tatsächlich große Gleichförmigkeit auf, ist aber auch Katalysator für die Entdeckung von Nuancen, Unterschieden und Abweichungen.
    Schon hier, am Fuß des Steilhanges, ist Sisyphos’ kreative denkerische Anspannung größer als die jedes Menschen, der in normaler Umgebung lebt, er ist mehr Erfinder und Entdecker als jene Durchschnittsmenschen, die Abwechslung bereits vorfinden und sich daran nur abarbeiten müssen, um Erlebnisse von Erfolg und Selbstverwirklichung zu haben. Sisyphos aber findet Abwechslung eben nicht vor, sondern muss sie selbst erschaffen, sie der Einförmigkeit des toten Steins abringen. Ich wage nicht, diesen kreativen Aufbruch des Sisyphos Glück zu nennen; es ist ja mehr eine instinktgeleitete Entwicklung und mehr dem Genuss zuzurechnen als einem Zuwachs an Weisheit. So mag es zum Beispiel sein, dass Sisyphos sich vorstellt, wenn er seine bereits uralten Muskeln anspannt, um die tote Steinmasse ins Rollen zu bringen, ein Boot gegen die Strömung eines Flusses zu schieben oder einen Wagen, der im Schlamm stecken geblieben ist. Ein andermal ist es ein zu

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