Seelenasche
Sisyphos, dem Einsamen, dem Verdammten, der Hoffnungsträger für die ganze Menschheit.
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Dessislava klappte das Schulheft zu und legte es wieder an seinen Platz zurück. Sie war nicht nur berührt von dem, was sie da gelesen hatte, sondern geradezu erschüttert und wie vor den Kopf geschlagen. Ein gemischtes Gefühl aus unverdienter Freude und schwerer Nachdenklichkeit, Bewunderung und Erstaunen erfüllte sie, vor allem aber ein gestilltes Bedürfnis nach wahrem Austausch. Ein Gefühl der Begeisterung hatte sie so stark gepackt, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Sie war aber auch verwirrt, weil sie noch immer nicht wusste, was sie von diesem Text halten sollte. Ihr war schon klar, dass Christo in Sisyphos eine Identifikationsfigur gefunden hatte für etwas, das mit ihm, seinem Leben, seinen Gefühlen und Einstellungen zu tun haben musste, und vielleicht gab es auch einen konkreten Anlass, der zum Auslöser dieser Niederschrift geworden war. War es die Krankheit seiner Mutter, die ihn so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, dass er seiner Ohnmacht etwas entgegensetzen musste? Sah er wirklich sich selbst in dieser Gestalt aus der altgriechischen Mythologie, oder symbolisierte Sisyphos nur die aus den Fugen geratene, widersprüchliche Gegenwart Bulgariens nach der Wende, dem nächsten groÃen gesellschaftlichen Bruch, der in seiner GröÃe und zerstörerischen Kraft nur aufs Neue zeigte, dass Normalität für Bulgarien das Unerreichbare schlechthin war, und dass dieses geplagte Land immer nur verdammt war zu Neuanfängen, qualvollen Versuchen, sich aus dem Abgrund zu retten, die am Ende doch wieder zu nichts auÃer einem weiteren Versuch führten? War dieser unförmige Felsblock vielleicht Sinnbild und Quintessenz der bulgarischen Geschichte, die auch immer nur kurzzeitige Höhepunkte gekannt hatte, gefolgt von restloser Zerstörung?
Sie hatte ihn nicht hereinkommen gehört, spürte aber auf einmal an einer Regung der Luft, dass er im Zimmer war, so immateriell und doch so präsent wie eine Idee, die einem plötzlich in den Kopf kommt. Von hinten. Sie wandte sich um. Er stand hinter ihr, versunken in der Stille und sich selbst, einer undefinierbaren, tiefen Selbstvergessenheit.
»Sie ist eingeschlafen«, sagte er mit entschuldigendem Unterton.
»Hast du das hier geschrieben?«
Dessislava tippte leicht auf den Deckel des Heftes. Seine Verlegenheit war so schön und unschuldig wie die eines ertappten Kindes. Seine Augen wurden dunkel, seine Wangen erröteten. Da stand sie auf, umarmte ihn kaum merklich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dabei spürte sie das Verlangen, ihn auf den Mund zu küssen, eben: ihn zu küssen! Dieses Verlangen war so ungestüm, dass sie selbst erschrak. Sie zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt, und verkapselte sich wieder in sich selbst.
Viertes Kapitel
1
Schon zu Beginn des Sommers, als die Hitze kam und mit ihr das nervtötende Gesumme buntschillernder Fliegen, gingen Gerüchte um, die Emilia leichtfertig abtat, vor denen sie ihre Ohren aber besser nicht verschlossen hätte. In Warna brachen massenhaft jene Finanzpyramiden zusammen, deren Kunden naive Anleger waren, von schwindelerregend hohen Zinsen angelockt. Ihre Kollegin Katja Peteva vom Theater hinter dem Kanal, die Emilia ebenfalls überredet hatte, ihr Geld dem zinsreichen Finanzhaus Lucky Strike & Co. anzuvertrauen, meinte sogar, sie habe darüber in der Zeitung 24 Stunden gelesen; aber Emilia las keine Zeitungen, schon gar nicht solche primitiven Boulevardblätter. Die Nachrichten waren doch sowieso immer schlecht, vorausgesetzt, es waren überhaupt Nachrichten und keine öffentlich ausgetragenen Schlammschlachten zwischen den politischen Gruppierungen und ihren redefreudigen Anführern, die mündlich keine Kompromisse kannten. Der US-Dollar stieg im Kurs, die Verbraucherpreise stiegen mit, Strom und Zentralheizungskosten schossen unaufhörlich in die Höhe, Einkommen und Renten der Menschen aber schmolzen dahin.
»Und weiÃt du, Emi, was das Stärkste ist?«, hatte Katja ihr mit mühsam beherrschter, zitternder Stimme gesagt. »Angeblich haben wir ja jetzt eine unabhängige Justiz, aber die hat die ersten Klagen abgeschmettert mit dem Argument, die Leute hätten die Verträge mit diesen Halsabschneidern ja freiwillig unterschrieben, die seien daher vollkommen
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