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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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erreicht, entgleitet ihm der Fels und rollt die Böschung hinab zum Fuß des Berges, zum Anfang, dem symbolischen Punkt der Geburt. Indem sie Sisyphos dazu verurteilen, eine sich ewig wiederholende, identische Handlung auszuführen, glauben die Götter triumphierend, ihn bis zur Unkenntlichkeit zu entpersönlichen, ihn zu einem unsterblichen Nichts zu machen, aller lebendigen Einzigartigkeit und Individualität beraubt und doch nicht tot, nichts als eine biologische Maschine.
    Die Geschichte ist simpel. Sie verführt dazu, als Fabel von der Arbeit als Selbstzweck, als Gleichnis einer Passion ohne Erlösung erzählt zu werden; aber das hieße, eine ganze Philosophie zu verschenken, die sich aus ihr herauslesen lässt.
    Das, was als Erstes ins Auge springt, ist die vollkommene Einsamkeit, ja, Verlassenheit des Sisyphos. Doch diese Einsamkeit ist eben nicht einfach das Alleinsein eines Einzelnen, sondern zugleich Symbol der kosmischen Einsamkeit der ganzen Menschheit! Sisyphos hat gewissermaßen keinen Eigennamen, ist weder Gestalt noch Schattengestalt, sondern nichts als zur Zukunft verdammte Anstrengung. Es spielt keine Rolle, ob er gut ist oder böse, kleinlich, liebenswert oder eitel, treu oder verräterisch, denn es gibt niemanden, vor dem diese Charaktereigenschaften in Erscheinung treten könnten. Er lebt eben außerhalb jeder menschlichen Gemeinschaft, was einerseits seine Passion unterstreicht, andererseits aber auch ein Privileg ist, das vielleicht humanste Privileg überhaupt, da so sein Handeln zwangsläufig im Namen aller Lebenden, Toten und Ungeborenen, kurz, stellvertretend für die ganze Menschheit geschieht. Sein Handeln ist nicht bedingt, sondern absolut, daher hat er kein Recht, zu irren; wer sollte ihn denn korrigieren? Es gibt auch niemanden, der seinen Fehler nachmachen könnte. Sisyphos hat folglich keine andere Wahl, als – vollkommen zu sein.
    Sisyphos existiert nun in absoluter Harmonie, in unzerstörbarer Gleichmäßigkeit, erteilt sich selbst die Befehle, und führt sie auch selbst aus. Das Urteil, das an ihm vollstreckt wurde, war ein einmaliger, wenn auch sein Schicksal vollkommen bestimmender Akt; sein Leben aber währt ewig. Die einzige Macht, die Sisyphos ausüben kann, erstreckt sich auf ihn selbst. Er kann niemand anderen verletzen, sondern nur sich selbst zum Handeln antreiben. Sisyphos bedarf keiner Energiezufuhr von außen, er ist unempfindlich gegen Kälte und Hitze, Hunger und Durst. Was er am Leibe trägt, kann er nicht wechseln, ganz gleich, ob es aus Lumpen oder Licht gewebt ist. Und der Stein, an dem er sich abarbeitet, mag aus purem Gold bestehen, aus Marmor oder aus Granit – das alles hat keine Bedeutung für ihn. Sisyphos ist weder arm noch reich. Er ist ununterbrochen erschöpft, über alle Maßen gequält und zur Entsagung verdammt, zur – Heiligkeit. Isoliert, hat er keine Laster mehr, unterliegt keinen Versuchungen mehr, sondern ist nichts als reine Ekstase, ekstatischer Wiederholungsrausch.
    Einmal in der Sklaverei des Existierens angekommen, ist er frei in jeder anderen Hinsicht. Er ist Symbol dafür, was jeder einzelne Mensch mit der Menschheit als Ganzes gemein hat, und verkörpert beide, auch in der menschlichen Hoffnung darauf, unsterblich zu sein. Mag der einzelne Mensch sterblich sein, die Menschheit als Ganzes (befreit von den individuellen Zügen wie Sisyphos) überdauert die Zeiten. Diese Unsterblichkeit ist gleichsam ein Von-sich-Wegstoßen eines gewaltigen Steins, der als toter für unser Wesen, die Sterblichkeit steht, bis zur Überwindung unserer selbst in der Abrundung, die nur durch unaufhörliches Wiederholen und Von-vorn-Beginnen sich einstellt. Die Griechen haben diese zyklische Wiederholung des Ewiggleichen dargestellt in der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt und somit Symbol für das Ende ist, das zum Anfang wird, das Erreichte, an dem das Unerreichbare sich zeigt. Was wäre denn die Alternative? Ein Kriechen aufwärts, bis wir oben angelangt sind, und – aus. Die scheinbare Sinnlosigkeit des ewigen Kreislaufs erweist sich als lebendiger und produktiver denn der von Gier gesteuerte einmalige Aufstieg, als das Absurdum ständigen und wachsenden Erfolgs, dem sich unsere Konsumgesellschaft neuerdings so bedingungslos verschrieben hat.
    Wie es in der Menschheit ununterbrochen Geburt und Sterben gibt, so ist auch bei Sisyphos

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