Seelenasche
groÃe Indifferenz, und da gab er zum ersten Mal in seinem Leben nach, da versank er in der reglosen Finsternis, dem unauslotbaren Brunnen.
17
Am nebligen Morgen des 2. Januar, als der alte Bai Spas, auch er Mitarbeiter von Security International, seine Schicht im Plastikfaserwerk antrat, wäre er bei seinem ersten Rundgang mitsamt seinen von der Neujahrsfresserei und -sauferei überfüllten Gedärmen und entsprechenden Gichtschmerzen fast über den längst erkalteten, hart gewordenen und von angewehtem Schnee einwattierten Körper Krum Marijkins gestolpert. Auch so hätte es ihn auf dem rutschigen Boden beinahe aus den Stiefeln gehauen. Er fasste sich entsetzt an den Kopf und schrie los.
Die Beamten von der Kriminalpolizei hatten es nicht eilig; sie trafen ein, drei Stunden nachdem Bai Spas ihnen seine Entdeckung mitgeteilt hatte. Mit dem kleinen Tischbesen, den Spas in seinem Bauwagen hatte, fegten sie das Gesicht des Toten frei, dessen Haar und Augenbrauen von Rauhreif bedeckt und hartgefroren waren. Krums Augen waren halb geöffnet, glanzlos. Er hatte den Ausdruck eines Menschen, der im Anblick von etwas Wunderbarem durch den Tod unterbrochen worden war. Vielleicht deshalb wirkte er wie einer, der nun auf ewig unverstanden bleiben würde, ein von Gott und der Welt verlassener Mensch, der vor Thomas Manns Zauberberg nur eine einzige Frage im Leben gekannt hatte: Warum wollen diese Menschen nicht glücklich sein?
Mit Blitzlicht fotografierten die Beamten die Lage seiner sterblichen Ãberreste. Der Gerichtsmediziner diagnostizierte rasch, dass der Tod durch Ersticken infolge gewaltsamer Fraktur des Kehlkopfs eingetreten war. Die Beamten suchten am Tatort nach Spuren, doch selbst wenn es sie gegeben hätte, hätte sie der Schnee längst schwer unter sich erstickt. Gegen Mittag traf auch Kriminalhauptkommissar Jurukov ein, der Leiter der Dienststelle. Er war ein Mann in vorgerückten Jahren mit grauen Säcken unter den Augen, einem Flecken auf dem Sakko und einer der wenigen, die sich an die grausame GröÃe Krum Marijkins »in diesen schweren Jahren«, die er auch »sozialistische Periode« nannte, noch persönlich erinnern konnten. Aus diesem Grund ordnete er gelangweilt, halb im Grusel, halb im Dusel, eine lückenlose Inspektion des Tatorts und eine Ermittlung auf allen Linien an.
Die Kugel, die Krum blind in die Halle abgefeuert hatte, fand man plattgedrückt in einem der Kunstfaser-Webstühle. Der Karabiner selbst wurde ebenfalls sichergestellt, auch wenn Jurukov keine Hoffnungen hegte, dass man darauf fremde Fingerabdrücke finden würde. Bei der Inspektion des Bauwagens, der Krum als Aufenthaltsraum gedient hatte, fand man keine sachdienlichen Hinweise, einmal abgesehen davon, dass Jurukov vor einem Rätsel stand, was der alte und rücksichtslose sozialistische Fanatiker Marijkin auf einmal mit dem bürgerlichen Schriftsteller Thomas Mann am Hut hatte, dessen Roman Doktor Faustus man mit einem Zigarettenpapierchen als Lesezeichen fand. Das Buch wurde mit sterilen Handschuhen vom Tisch genommen und behutsam in einen Plastikbeutel gesteckt, um auf alle Fälle im Labor des Polizeibezirks auf Spuren untersucht zu werden. Gab der Inhalt des Werkes vielleicht Aufschlüsse über das Tatmotiv? Keiner von Jurukovs Leuten hatte es gelesen. So war er gezwungen, sich an Herrn Widenov, Lehrer für bulgarische Sprache und Literatur, zu wenden. Als sie ihn am Nachmittag aufsuchten, war er im Schlafanzug und trank Kaffee mit der ebenso schönen wie verheirateten Zahnärztin Dr. Evtimova. Widenov erzählte den Beamten auf die Schnelle die Handlung des Doktor Faustus , betonte aber:
»Suchen Sie die Bedeutung des Romans nicht im Stoff! Sie liegt in der Sprache und in der Betrachtungsweise. Das Buch ist so etwas wie der Stein der Weisen im Fundament der deutschen Literatur.«
»Ãber die GröÃe des Buches will ich gar nicht mit Ihnen streiten«, erwiderte Jurukov, »ich frage mich nur, was der gute Krum mit diesem Buch wollte. Dass es schwierig, unzugänglich und groà ist, ist ja schon mal gut, weil Krum sich immer nur mit unmöglichen Sachen befasste, aber doch bloà als Anlass, zur Tat zu schreiten, und nicht, um weise zu werden.« Jurukov erinnerte sich noch, wie Krum Marijkin nach der Enteignung der Widiner Fabrikanten den Don Quijote gelesen hatte. Jemand, der nie gefasst wurde, hatte ein Attentat auf ihn
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