Seelenasche
Drehkräne ragten starr in den Himmel wie vereiste Fischreiher. Was bewachte er hier eigentlich auÃer einem Haufen Rost und seinen nostalgischen Erinnerungen? Er zuckte zusammen bei dem schlimmsten aller Gedanken für einen wie ihn: eigentlich nur noch sich selbst! Er war noch nicht weit genug in der Lektüre des Doktor Faustus fortgeschritten, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass auch diese demütige Bescheidung eine Aufgabe sein konnte, darum zog er den Verschluss seines Karabiners zurück, bis die Patrone in den Lauf einrastete. Er verbarg sich am Bau des chemischen Labors, und da sah er sie, die grünlichen, riesigen Insekten gleichenden SIL-Laster, die neben der Werkshalle standen, in der die Polyamidfasern verwebt wurden. Die schweren Tore der Halle waren herausgerissen; die Ãffnungen gähnten wie die Münder von Toten. Krum sah Gewalt auf sich zukommen; er roch sie. Gewalt in ihrer Grenzüberschreitung, Hässlichkeit und Grausamkeit. Er kannte sie gut. Ein Leben lang hatte er mit ihr versucht, misstrauische und unwillige Leute zu ihrem Glück zu zwingen, dem Glück des Sozialismus. Nun hieà es, sie zu erkennen, sich ihr zu unterwerfen, ihr den Rücken zuzukehren und â zu bereuen. Zum ersten Mal in seinem Leben zauderte er, denn seine Seele bereute, wollte sühnen, doch anstatt in die heimelige Unbesorgtheit seines Bauwagens zurückzukehren, legte er sich auf die Lauer, duckte er sich noch tiefer, bis er fast kroch. Er musste eigentlich nur diese kaum fünfzig Meter ohne Deckung überwinden, aber der unberührte Schnee leuchtete verräterisch hell.
Als er das Tor der Werkshalle erreicht hatte und hineinspähte, wurde er von einem Kolbenhieb überrascht, der ihm fast den Schädel spaltete. Sein Gehirn gab dieses metallische Dröhnen von sich, das er von seinen Schlaganfällen kannte. Seine Augen leerten sich, ein grauer Schatten legte sich darüber, so als vermöchte auch hier der Mond nicht mehr, mit seinem Licht die Wolken zu durchdringen. Jemand trat seinen Karabiner weg und beugte sich über seinen gelähmt daliegenden Körper. Er spürte den Schatten des Mannes. Er roch nach offener Feuerstelle, nach schwerem, trocknendem Wollstoff, nach Alkohol und nach schlechten Zähnen.
»Atmest du noch?«, fragte der Schatten. »Halt dich bedeckt, Alterchen, und bleib ganz still. Tu so, als hättest du nichts gehört und nichts gesehen. Du bist gar nicht da, verstehst du? Wenn du das nämlich verstehst, dann lass ich dich in Ruhe an Verkalkung krepieren!«
Der nackte Zementboden war kalt wie in der Leichenhalle. Schritte gingen vorbei, Stimmen näherten und entfernten sich. Auch die Gefahr war vermutlich vorbei. Er aber hatte doch erst so wenig gelesen! Das Flämmchen der Schönheit in seiner Seele war noch so klein, alle zarten, feinen Empfindungen noch Sprösslinge im Seelenschatten. Er streckte den Arm nach seinem Gewehr aus, kroch hin, legte an. Zielen ging nicht, weil er nicht mehr sehen konnte; also entsicherte er den Karabiner und schoss aufs Geratewohl in die Halle. Da kamen die Schritte wieder zurück. Diesmal nicht huschend, sondern trampelnd, wütend. Jemand trat ihm gegen den Kopf und drehte ihn wieder auf den Rücken.
»Wen willst du denn hier abknallen, he, du bepisster Tattergreis?«
Schemenhaft sah er das grobe Profil einer Schuhsohle vor seinem Blick schweben; dann legte es sich auf seine Kehle, wurde immer schwerer. Krum hörte, wie der Knorpel seines Kehlkopfes knackte, als bräche ein Ei auf. Der Schmerz raste los wie ein Rennwagen. In seinem entfleuchenden Bewusstsein tauchten Bilder aus dem Film Tschapaew auf, den er ungezählte Male mit dem uralten ukrainischen Projektor vorgeführt hatte, um in den Menschen das Andenken an tragische Opfer und Heldenmut der Revolution wachzuhalten, dann blitzten die letzten Splitter seines Bewusstseins auf und fügten sich zum Schlusssatz des Zauberbergs : »Wird aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmsten Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?« Er war noch genügend bei sich, um die ganze Gewalt dieser Frage zu verspüren, fand aber keine Antwort mehr darauf. Ein schrecklicher, rasender Schmerz steckte tief in ihm drin; seine zerquetschte Kehle hinderte ihn aber daran, ihn stöhnend herauszulassen. SchlieÃlich nahm ihn die bodenlose Schwärze auf, die
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