Seelenasche
verübt, die Kugel seiner Kleinkaliberpistole aber hatte ihn verfehlt, hatte die Scheibe der örtlichen Buch- und Schreibwarenhandlung durchschlagen und war im Deckel des Don Quijote stecken geblieben. Das hatte in der Stadt ebensolches Aufsehen erregt wie die Tatsache, dass Krum danach in die Buchhandlung gegangen und sich den Roman besorgt â und ihn gelesen hatte! Der Don Quijote hatte gleichsam, so wie Jesus die Sünden der Welt durch seine Passion auf sich genommen hatte, die Sünden des brutalen Enteigners auf sich genommen und so gröÃeres Unglück verhindert. Wäre Marijkin nämlich damals der Kugel des unbekannten Täters erlegen, hätte dies eine Welle von Verhaftungen, Zwangsarresten und Repressionen gegen kleinste Regungen von Oppositionsgeist durch die neuen sozialistischen Machthaber ausgelöst. Ja, der Don Quijote hatte die Kettenreaktion des Bösen unterbrochen. Hauptkommissar Jurukov hatte nun das Negativ der Lösung dieses brutalen Mordfalls und sagte nachdenklich zu Lehrer Widenov: »Man möchte fast meinen, hätte Krum Marijkin den Doktor Faustus unter den Arm geklemmt statt dieses SchieÃeisens, dann wäre er heute noch am Leben.«
18
Am Tag der Beisetzung drehte der Wind über Widin auf Nord und brachte schneidende Kälte. Die Luft schien auf einmal nicht zu reichen, so dünn war sie. Der Schnee knirschte unter dem FuÃ, und ab und zu hörte man das knallende Geräusch, wenn ein Baum unter dem Frost platzte. Auf dem Friedhof gab es keine freie Grabstelle, und so war man gezwungen gewesen, Krum zu seiner Mutter, Gina Jotzova, dem Tantchen Allwissend, ins Grab zu legen, deren Leben so verdächtig einer Karikatur der Buddenbrooks geglichen hatte, und die ihn erst in ihrer verzweifelten Altersbosheit anerkannt hatte, um mit ihm jenem Menschen Leid zuzufügen, von dem sie sich gedemütigt fühlte.
Ginas letzte Ruhestätte war ähnlich bombastisch aufgedonnert wie ihr ganzes Leben. Die Grabeinfassung war aus Gusseisen in der Form von Blumen, und ein Engel mit idiotischem Lächeln und zum Himmel verdrehten Augen schlug die Flügel. Sein Gesichtsausdruck lieà es höchst zweifelhaft erscheinen, ob die Aussicht, in den Himmel zu kommen, wirklich erfreulicher war als das irdische Jammertal. Gina selbst hatte diese Engelsskulptur auf einem Sockel aus geschliffenem Marmor geschlagene sechsundvierzig Jahre vor ihrem Ableben in einem Sofioter Steinmetz-Atelier in Auftrag gegeben und die ganze Zeit im Hof ihres Widiner Hauses bei Sonne, Wind, Regen und Frost stehen lassen, sodass die vom Bildhauer auf die Wangen gemeiÃelten Tränen längst von der Witterung »getrocknet« worden waren.
Der Boden war bis auf mehr als einen Meter gefroren. Die Totengräber, zwei Zigeuner, hatten bis zum letzten Moment geschuftet, um mit der Aushebung rechtzeitig fertig zu werden. Von ihrem verfilzten Haar und ihren Jacken stieg Dampf auf. In Erwartung eines gebührenden Trinkgeldes zeigten sie lächelnd ihre Goldzähne und stellten sogar das Radio leiser, in dem eine Debatte aus dem Parlament übertragen wurde.
An Trauergästen waren auÃer dem Nordwind nur Krum Krumov mit einem kleinen Strauà weiÃer, eingefrorener Nelken gekommen, Newena, die Ehefrau des Verstorbenen, mit leeren, ausdruckslosen Augen und zusammengekrampftem Herzen, der ehemalige Vorsitzende des Stadtteilverbandes der Vaterländischen Front, ein Herr Pamuklijski mit Narbe auf der Stirn und kleinen, flinken Mäuseaugen, und der alte Koitschev, der wegen der Saukälte unter seiner Hose nicht nur lange Unterhosen, sondern auch noch eine Schlafanzughose trug. Er hatte sich in seinen ausgebeulten Mantel eingemummt, den Künstlerschal ein paarmal um Hals, Mund und Nase gewickelt, die Fellmütze tief ins Gesicht gezogen und prüfte mit der behandschuhten Hand, ob die drei engbeschriebenen Blätter auch noch an ihrem Platz waren. Darin rühmte er das Leben des Verstorbenen als ein ungestümes, aber unbestechliches, von Selbstopfern und unerschütterlichem Glauben an eine strahlende Zukunft beseeltes, einer Zukunft, die nun, bevor sie begonnen hatte, schon Vergangenheit geworden war. Koitschev las mit beklommenem Herzen und mitleidheischender Stimme. In seinem billigen Lattensarg schien Krum Marijkin ihm aufmerksam zu lauschen, mit der ganzen Aufmerksamkeit und allem Ernst, zu dem ein noch lebender Toter fähig war. Er war vermutlich
Weitere Kostenlose Bücher