Seelenasche
Rentner Dienst schieben. Sei es aus diesem Grund, sei es, weil er so hoffte, den Doktor Faustus ungestört auslesen zu können, erklärte Krum sich bereit, nicht nur diese Zusatzschicht zu fahren, sondern auch das Revier der anderen drei Wachleute mitzubetreuen. Sein Vorgesetzter beruhigte ihn mit den Worten: »Keine Sorge, in der Silvesternacht ziehen es selbst die eingefleischtesten Diebe und Einbrecher vor, zu feiern und sich volllaufen zu lassen.«
In seiner Frau Newena, die mit den Jahren immer mehr einem Raubvogel glich, kamen bei der Aussicht, das neue Jahr allein empfangen zu müssen, Erinnerungen an alte Zeiten hoch, in denen sie ihr Glück darin hatte finden müssen, auf diesen Dickkopf von Mann zu warten. Halb stolz, halb verärgert schimpfte sie: »Du bist auch wirklich der einzige unverbesserliche Dummkopf, Marijkin, der sich für unersetzlich hält und freiwillig bereit ist zu so einer Zumutung.« Dann ging sie treu ergeben zum Kleiderschrank, holte ihm warme lange Unterhosen und dicke Wollstrümpfe heraus, die sie selbst gestrickt hatte. Krum Krumov, der sich vor dem Spiegel in der Küche rasierte, hörte die kleine Standpauke mit und lachte in trautem Wiedererkennen.
Am Mittag des 31. Dezember rieb der alte Krum seine Schuhe dick mit Schweinefett ein, packte sich die Hälfte der gebackenen, mit Sauerkohl gefüllten Ente ein, eine Flasche billigen Weins der Marke »Klostergeflüster«, versteckte in der Brusttasche seiner Jacke den unbegreiflichen, aber unwiderstehlich anziehenden Doktor Faustus , schnappte sich seinen Karabiner, prüfte, ob er geladen war, und wartete auf den russischen Jeep der Security International mit der rissigen Zeltplanenabdeckung; auch den hatte der Chef für einen Apfel und ein Ei aus ausgemusterten Armeebeständen angeschafft.
Von früh an schneite alles ein. Der Schnee belud die Welt mit der reinen, kalten Farbe einer Einsamkeit voller Geheimnis. Sogar der Militärjeep hatte Schwierigkeiten auf dem rutschigen, nicht geräumten Weg Richtung Sofia, auf dem man zu den Chemiewerken gelangte; doch endlich bog er zum Haupteingang des Polyamidfaserwerks ein.
Krum bestieg als Erstes den Feuerwehrturm und schaute sich um. Bald sah er ein, dass er allein unmöglich auf allen vier Posten gleichzeitig sein konnte, darum beschloss er, wieder von seinem eigenen Bauwagen aus zu agieren, der ihm zum einen vertraut war und zum anderen fast genau in der Mitte des Werksgeländes lag, das sich mehrere Kilometer am Ufer der Donau hinzog, die zwischen den tief verschneiten Ufern noch grauer aussah, grau, schwer und hart wie Gusseisen. Krum schaffte Brennholz herbei und machte Feuer im Kanonenofen, der schon bald rot glühte und das Wasser im Teekessel zum Brodeln brachte. Im Bauwagen wurde es mollig warm. Er warf seine gefütterte Winterjacke ab und sich, nachdem er den Wecker gestellt hatte, im Pullover auf die Liege. Er hatte sich vorgenommen, alle zwei Stunden einen Wachrundgang zu machen, um zehn Minuten vor Mitternacht seinen Wein zu öffnen, das Licht im Wohnwagen auszumachen und ein bisschen im Neujahrslichterschein von Widin zu baden. Als all dies getan und bedacht war, nahm er seinen Doktor Faustus , öffnete das Buch und versank darin.
Um vier Uhr nachmittags hörte es zu schneien auf, und auf die unberührten Schneewehen fiel bläulich der Schein der Dämmerung. Bald versilberte der Vollmond die Wolken; aber durchbrechen konnte er sie nicht mit seinem geschenkten Licht. Um sieben Uhr abends beendete er seinen dritten Rundgang, brach sich ein Stück Ente ab, stellte eine Portion mit Kohl zum Aufwärmen auf den Ofen, und aà zu Abend. Er wollte es sich schon wieder mit seinem Roman bequem machen, als ein Rudel herrenloser Hunde zu bellen anfing. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Sie schlugen immer an, wenn sie ein Karnickel aufgespürt hatten, eine streunende Katze oder einen Fuchs. Zur Sicherheit setzte er trotzdem seine gefütterte Mütze mit den Ohrenklappen auf und ging nachschauen.
DrauÃen war es still, die Luft klingend vor Kälte und Klarheit. Da hörte er von ferne plötzlich das Aufheulen strapazierter Dieselmotoren. Da mussten viele Lastwagen im Schnee stecken geblieben sein. Krum duckte sich, ging zu seinem Bauwagen zurück, zog die kurze Felljacke über und schnappte sich seinen Karabiner. Langsam schlich er sich an. Die Geräusche kamen vom Hafen her. Die
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