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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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interessante Warnung an auffahrende Verkehrsteilnehmer lesen konnte: »one Licht!« Sie waren gegen Feuchtigkeit isoliert und verhältnismäßig warm, eingerichtet mit Tisch, Stuhl, Ruhebank und einem bauchigen Kanonenofen, auf dem der diensthabende Wachmann sich auf seiner Rund-um-die-Uhr-Schicht sogar einen Tee kochen, eine Wurst braten oder einen Eintopf zubereiten konnte. Als Augenweide waren an den Wänden Plakate halbnackter bulgarischer Popfolk-Sängerinnen aufgeklebt. Krum fühlte die Bedeutung seiner Tätigkeit nun angemessen gewürdigt, ja, man konnte meinen, schon die bloße Präsenz dieser Bauwagen, in denen er so etwas wie ein zweites Zuhause auf Rädern fand, erhöhe bereits die Sicherheit des Werks.
    In diesem endlosen Winter geschah auch noch ein anderes Wunder. Sein Leben lang war Krum fast pausenlos im Einsatz gewesen. Aus diesem Grund hatte er nur wenige Bücher gelesen, und wenn, dann Sowjetromane des Typs Vom Härten des Stahls , Zement , Kämpfe unterwegs . Nun hatte er Lehrer Koitschev nicht nur gebeten, ihm Lektüre aus seiner Bibliothek zu geben, sondern wegen der langen Nächte, in denen er nicht einschlafen durfte, auch möglichst dicke Bücher. Koitschev gab ihm die Buddenbrooks von irgend so einem Thomas Mann mit der Bemerkung, dieser Roman werde ihm so langweilig sein, dass er ihm bis zum Ende seines Lebens als Lektüre reichen werde. Krum schlug ihn auf unter der nackten Sechzig-Watt-Birne und – las sich fest. Er versank darin wie in einem Traum. Um die Lektüre nicht unterbrechen zu müssen, nahm er das Buch mit nach Hause. Binnen einer Woche hatte er es ausgelesen. Es erfüllte ihn mit einer unbekannten Freude. Bislang hatte er sich nicht vorstellen können, dass Worte etwas so Lebendiges, Aufwühlendes sein konnten, das einen beschäftigte wie eine reale Aufgabe. In dieser Buchstabenwelt gab es Leute von frappierender Verschiedenartigkeit, Leute, die von ihm unbekannten Zweifeln geplagt wurden, die der Autor einem aber nachvollziehbar schilderte, Leute, die von unvermuteten Leidenschaften befallen waren und von ganz anderen Ausprägungen der Liebe.
    Erschrocken über sich selbst, aber zugleich auch von einem Interesse erfüllt, das er nicht zu zügeln vermochte, lieh er sich im Lesesaal Bunte Welt ein weiteres Buch dieses deutschen Autors aus, Der Zauberberg . Dieses Buch, das sich auf Kenntnisse, Reflexionen und Erfahrungen berief, die ihm fehlten, stürzte ihn geradezu in Melancholie, weil ihm bei der Lektüre klar wurde, was er in seinem Leben verpasst hatte. Was er aber vermochte, das war, die ästhetische Oberfläche des Buches zu spüren, so wie man auch Aufkommen und Abebben des Windes auf der Haut spürt, die Unregelmäßigkeiten des Lichts und der Wärme. Er tauchte in dieses Buchstabenmeer ein wie ein Kind in eine tiefe Stelle im Bach, in der das Wasser zugleich stand und floss, sich beruhigte und Strudel bildete. Und genau wie das Kind wollte er versuchen, ob er es nicht schaffte, bis auf den Grund zu tauchen, auf die Gefahr hin, dass ihm die Luft nicht reichte.
    Es gab niemanden, mit dem er über seine neue Leidenschaft hätte sprechen können, denn – er schämte sich für solch unverhoffte Gefühlsduselei: für seine geradezu weibisch weichen Gefühle, seine Erschütterung über das Schicksal der Romanfiguren, und für die Tränen, die das gefundene Wort der Kunst ihm in die äußeren und inneren Augen trieb. Bald aber begann er sich auch für seine Scham zu schämen, also für das, was er selbst bislang gewesen war: ein »grober, primitiver und rechthaberischer Moralapostel«, wie seine Frau Newena ihn mit Recht, wie er jetzt fand, geschimpft hatte. Die plötzliche Erkenntnis des Schönen jagte ihm Furcht ein wie dem Kind der dunkle Keller. Dann überraschte ihn die Wahrheit des Sanften. Wie angeschmiedet über den Seiten, erfuhr Krum Marijkin, schüchtern, scheu und doch begierig, was es hieß, Bindung an Lebendiges und nicht nur an Ideen zu entfalten. Mit der Zeit beanspruchte ihn das Lesen so sehr, dass er darüber seinen Wachdienst schleifen ließ. Vor sich den Zauberberg , neben sich das geladene Gewehr mit dem abgeschnittenen Lauf, diese unsichere und unbedeutende Verlängerung seiner Tapferkeit.
16
    In der Nacht von Silvester auf Neujahr wollte keiner der für die Widiner Wachfirma Security International arbeitenden

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