Seelenasche

Ahnungslosigkeit und seinen erbarmungslos vorgefertigten Urteilen und Erwartungen.«
    Halb Bulgarien sieht mir am Samstagabend zu, während es seinen Schnaps trinkt und sein Salätchen dazu isst und die Koteletts oder Hackfleischröllchen brutzelt, weil es einfach noch zu früh ist, um in die Heia zu gehen, dachte Jordan. Nach einer öden Arbeitswoche, die ihnen wieder einmal ihre Mittelmäßigkeit vorgeführt hat, wollen sie sich über etwas ereifern, an etwas begeistern, auf jemanden fluchen, damit ihnen leichter ums Herz wird. Ich bin ihre Entspannung, ihre Ablenkung, ihr intellektuelles Kreuzworträtsel und gebe ihnen die Stichworte mal für begeisterte Zustimmung, mal für Protest. Und jetzt – hier am Tisch bei einem einzigen Menschen – bin ich vollkommen hilflos!
    Â»Weiß Dessi es schon?«, fragte er, um sich irgendwie aus der Verlegenheit zu helfen.
    Â»Natürlich weiß sie es. Sie hat mein bestes Kleid in Streifen geschnitten, um mir zu zeigen, dass sie nicht einverstanden ist. Von oben bis unten, als wäre ich persönlich gemeint.«
    Â»Das ist doch nur ihre nächste Lüge!«
    Â»Klar ist es eine Lüge, aber genau das erschreckt mich ja so. Ich hatte gedacht, ihr seid nun groß und erwachsen genug, um uns nicht mehr zu brauchen. Aber sie wird immer klein bleiben, das ist es, was mir Sorgen bereitet.«
    Â»Altjüngferlich klein«, stimmte er zu, doch Emilia überbot ihn und sagte:
    Â»Unmöglich klein, beleidigend und gefährlich klein!«
14
    Der rauhe, trockene Schnee, der den Weg nach Simeonowo bedeckte, vermittelte ihm das Gefühl, er bewege sich auf dem Rücken eines wilden Urzeitviehs. In den Kurven kam sein Wagen ins Rutschen, an steilen Anstiegen drehten die Räder durch, kurz, sein Fahrzeug war bei diesem Wetter schwer zu kontrollieren. Seine Gemütsverfassung trug das ihre dazu bei, dass er sich nur mit Mühe auf den Weg konzentrieren konnte, der ihm seltsam unbekannt erschien.
    Genau vor dem Wochenendhaus sackte er ein. Die Luft, die ihn beim Aussteigen empfing, roch nach Ozon und Kohlensäure und war so klirrend kalt, dass er kaum atmen konnte. Der Himmel über ihm war klar, unbeteiligt und ewig wie künstliche Intelligenz. Das Wohnzimmer, in dem sein Vater arbeitete, war erleuchtet. Emilia hatte die schmucke, zweckmäßige Holzhütte, die sie vor vielen Jahren als Wochenendhäuschen gekauft hatten, einreißen und an ihrer Stelle ein pompöses zweigeschossiges Haus errichten lassen mit Erkern und offenem Balkon. Alles ringsum war schneidend weiß und rein. Der Weg zur Terrasse war kaum zu erkennen, so als sei der Schnee nicht gefallen, sondern aus dem Boden gewachsen. Nur die Laube in der Ecke des Gartens war dem Neubau nicht zum Opfer gefallen. In dieser Laube, eines fernen Spätherbstes, hatte der eben erwachsene Jordan es mit der besten Freundin seiner Stiefmutter getan, um sich an ihr zu rächen und sie zu erniedrigen. Jetzt aber wandte er seine Schritte dem erleuchteten Fenster zu, um den Stolz ebendieser Stiefmutter zu rehabilitieren. Er holte vorsichtig, aber tief Luft und versuchte, diesen langen, verbrauchten Tag auszuatmen.
    Die Außentür war unverschlossen. Er stolperte über jemandes Schneestiefel, tastete sich wankend und mit dem Gefühl, er käme zu spät, voran und stolperte schließlich ins gut geheizte Wohnzimmer. Die Flammen im offenen Kamin warfen lebendige Schatten an die Wand gegenüber. Sein Vater saß an dem kleinen Tisch, vor sich die schwarze Erika-Reiseschreibmaschine, der man ansah, was sie schon alles mitgemacht hatte, und einen Stapel beschriebener Blätter. Sein Gesichtsausdruck verriet beim Anblick seines Sohnes weder Verwunderung noch Erwartung, sondern nur Strenge und scheinbare Kälte.
    Â»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
    Endlich mal eine Frage nach Jordans Geschmack. Neda wäre nie auf die Idee gekommen, ihn so etwas Normalsterbliches zu fragen, da sie in einer anderen Zeitordnung lebte. Sie las vermutlich gerade Pawel Weshinovs Novelle Die Barriere und sehnte sich danach, wie deren Heldin fliegen zu können, empor in den grausig leeren Himmel zu jenen fremden, silbrigen Sternen, denen nur künstliche Intelligenz gewachsen war! Für sie war es ohne Bedeutung, wann Jordan nach Hause kam, ja, ob er überhaupt nach Hause kam. Sie hatte ihre Pflicht getan, ihm ein Kotelett gebraten und eine Orange