Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
leben, der schon zu Lebzeiten das Denkmal seiner selbst ist? Unerträglich! Ich fühle mich jetzt fast dreißig Jahre wie eine Angeklagte, aber die Schlussverhandlung wird ständig vertagt. Von seinen Lippen kam nie ein Vorwurf – und irgendwann haben meine Nerven es nicht mehr ausgehalten. Es gibt Momente … wenn du dich da immer noch sanft und taktvoll verhältst, dann ist das grausamer als die grausamste Grausamkeit.«
    Sie goss sich selbst aus der Flasche nach und leerte ihr Glas in einem Zug.
    Â»In den letzten zwanzig Jahren habe ich mit der Faust in der Tasche an die fünfzig mittelmäßige Rollen gespielt, während er nur ein einziges Buch geschrieben hat, das aber aus voller Überzeugung und ohne Kompromisse. Ebenfalls aus Überzeugung hat er vor der kommunistischen Machtergreifung auf ein paar üble Gestalten geschossen. Mag sein, dass er deine Mutter nicht geliebt hat, aber er war so redlich, sie zu heiraten, und hat wirklich an etwas geglaubt, was ich bloß von der Bühne herunter rezitiert habe. Will sagen: Wir existieren bloß, er aber hat wirklich gelebt.«
    Â»Emilia, nun mach aber mal einen Punkt – du bist doch großartig als Schauspielerin!«
    Â»Gott, du hast wirklich nichts verstanden. Es geht hier nicht nur ums Theater, sondern auch um das, was vor den Proben und nach der Vorstellung abläuft. Weißt du eigentlich, dass ich Assen nie betrogen habe?«
    Jordan merkte, dass ihr das wichtig war, und er versuchte, ihr eine Brücke zu bauen.
    Â»Und warum?«, fragte er unbeholfen.
    Â»Am Anfang dachte ich, na klar bin ich treu – ich liebe ihn ja! Aber das tue ich jetzt auch. Dann dachte ich: Mein schauspielerisches Unvermögen hemmt mich, jenes Quentchen oder von mir aus Quantum Talent, das mir zur großen Darstellerin fehlt. Denn das wahre Talent, mein Lieber, ist Teil der menschlichen Freiheit. Alles Übrige ist nur Camouflage, Mimikry, Nachahmerei der wahren Freiheit. Erst jetzt weiß ich, was mich wirklich abgehalten hat: Seine ganze makellose Aufmerksamkeit täuschte nur darüber hinweg, dass er sich gar nicht für mich interessierte. Hätte ich ihn betrogen, dann hätte ihn das gar nicht verbittert, sondern bloß erleichtert. Denn das hätte ihm den Beweis für etwas geliefert, was er ohnehin schon wusste: dass ich ein einfach gestrickter, ein unfreier Mensch bin .«
    Der Wein in der zweiten Flasche war säuerlich, oder kam ihm das nur so vor? Er war verunsichert, innerlich aus den Fugen, dabei musste er hier unbedingt eingreifen.
    Â»Jetzt bist du aber ungerecht zu dir!«
    Â»Wer ist schon gerecht auf dieser Welt? Die Gesetze vielleicht, über die dein Vater so gescheit nachdenkt? Sein Buch über die Macht, mit dem er uns alle gequält hat? Oder gar seine moralische Unantastbarkeit? Weißt du übrigens, dass er in Simeonowo angefangen hat, irgend so ein verflixtes Traktat über die Demokratie zu schreiben? Er will damit die Publikation von Kotzev und seinem Vetter Alexander widerlegen, die auf fünfhundert Seiten ausgebreitet hätten, dass Demokratie nur ein leerer Begriff sei.«
    Â»Na, bei uns hier ist das ja auch gar nicht so falsch«, murmelte Jordan und schaute sich verstohlen um.
    Â»Assen schreibt über das, was er kommen sieht«, sagte sie verschwörerisch, »und ich bin sicher, das wird sein zweites wichtiges Buch!«
    Das volle Glas zitterte in ihrer Hand, als sei sie Alkoholikerin. Zum ersten Mal belastete sie ihn mit etwas, für das er nichts konnte, und das war nicht rechtens. Vor kaum anderthalb Stunden hatte er eine glanzvolle Aufzeichnung hinter sich gebracht, die Professoren waren voll eingestiegen und hatten sich über Moral und Möglichkeit von künstlicher Intelligenz gestritten, so weit es der gute Ton zuließ, und das zehnbeinige japanische Ungetüm hatte zum Abschluss ihre Thesen und Argumente veranschaulicht. Er hatte die Frage der Moral ins Spiel gebracht und es genossen, anziehend und unverbindlich über etwas zu reden, das vielleicht nie Realität wurde. Nun war in seinem Kopf nur noch Leere und Grauen.
    Â»Wer ist schon gerecht auf dieser Welt?«, wiederholte Emilia.
    Â»Das Publikum«, antwortete Jordan gequält, »die da unten im Parkett.«
    Â»Quatsch! Das Publikum stellt sich immer auf eine Seite, Teuerster!« Emilia lächelte bitter. »Es hat seine Lieblinge und kommt ins Theater mitsamt seiner

Weitere Kostenlose Bücher