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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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geworden, doch er schaute weiterhin mit den verwunderten blauen Augen eines verlorenen Kindes in die Welt. Petrov wirkte so hilflos und verlassen, dass Christo in seiner Gegenwart vor lauter Mitleid nicht ein noch aus wusste. Sie trafen sich unverändert in dem konspirativen Appartement auf der Biglastraße im stillen und beschaulich-grünen Sofioter Wohngebiet Losenez. Drinnen roch es aus unerfindlichen Gründen ständig nach verschmorten Reifen und Stoffturnschuhen mit Gummikappen, in denen Schweißfüße gesteckt hatten. Das Wohnzimmer wirkte wegen der Brandmauer gegenüber immer düster. Eingerichtet war es mit zwei ausziehbaren Sofas, kitschigen Nachttischlampen mit Schirmen in Blumenform, einem wackligen Wohnzimmertischchen, auf dem sich überquellende Aschenbecher häuften, und einem kahlen Schreibtisch, dessen Politur sich in der vergeblichen Hoffnung, jemand möchte sich zum Arbeiten daran setzen, fast verflüchtigt hatte.
    Petrov war meist schon da, wenn er kam, und erwartete ihn versunken, einsam, konzentriert. Von allen vergessen. Und dabei von einer messerscharfen Herzlichkeit. Manchmal traf Christo ihn auf dem Balkon beim Taubenfüttern an. In dieser unbewussten Kontaktsuche mit der Freiheit lag etwas Symbolisches, das einen rührte, zugleich aber die leise Vorwarnung kommender Gefahr. Am häufigsten lag Petrov bei seinem Eintreten auf einem der Sofas, beschämt von seiner eigenen Bedeutungslosigkeit, den Blick auf den ramponierten, in Bulgarien zusammengeschraubten Farbfernseher mit den belgischen Teilen geheftet, der gar nicht an die Antenne angeschlossen war. Mit einer demokratischen, einladenden Geste bot Petrov ihm Platz auf dem Plüschhocker gegenüber an. Das erstickend graue Licht ließ ihn aussehen wie einen, der gerade von seiner Frau verlassen worden war. Er knabberte Kürbiskerne aus der Schale. Mit der linken Hand griff er ins Tütchen, die Rechte brauchte er, um damit in seinen luxuriös in Leder gebundenen Terminplaner zu schreiben, den die Volksversammlung vor zwei Jahren herausgegeben hatte. Einen nach dem anderen knabberte er die Kerne aus ihrer Schale und zerkaute sie. In dieser monoton sich wiederholenden Bewegungsfolge lag etwas beruhigend Bürokratisches, regelrecht Einschläferndes. Die beigen Schalen schnipste er in einen Aschenbecher in Form einer leeren Granatenhülle, seine Zigarettenasche stippte er in einem anderen Aschenbecher aus Kristallglas ab.
    Um einen nützlichen Eindruck zu machen und unersetzlich zu wirken, hatte Christo sich eine kleine Strategie zurechtgelegt. Dazu gehörte, wenigstens zweimal im Monat Berichte schreiben, um im »Aktivstatus« (der Ausdruck stammte von Major Petrov) zu verbleiben. Er durfte es aber auch nicht übertreiben. Übertriebene Beflissenheit, andere zu verraten und ihnen zu schaden, weckte nämlich ebenfalls Verdacht.
    Â»Na, Gott sei Dank bist du aktiv! « Er zerkaute einen weiteren grünen Kürbiskern und klopfte sich die abgebrochenen Schalenkrümel vom Anzug, der zerknittert und nicht weniger verlassen wirkte als sein Träger. »Seit diese blöde Perestrojka Furore macht, haben sich eine ganze Reihe unserer Freunde « – er sagte nie Mitarbeiter – »in die Hosen geschissen vor Angst. Die sind kaputt , verdammt nochmal!«
    Â»Genosse Major«, hatte Christo ihm an einem sonnigen und einladenden Tag gesagt, »ich verspreche Ihnen, weiterhin so aktiv zu bleiben, ein Perpetuum mobile geradezu; aber ich habe eine große Bitte an Sie.«
    Der gequälte Blick Petrovs belebte sich. Die beiden Männer hatten ihre wechselseitige Abhängigkeit, ihren Nutzen voneinander längst erkannt, ihre Einigkeit in der Gespaltenheit, und im Wissen um diesen Zynismus ihres Verhältnisses verbargen sie ihre gegenseitige Verachtung nicht.
    Â»Ich höre, Freund …«
    Â»Ich möchte Sie eindringlich um einen großen Gefallen bitten.« Christo stotterte vor Anspannung. »Geben Sie Minister Sdravkov dezent zu verstehen, dass ich nicht bloß für Sie arbeite, sondern als Offizier fest zu Ihrer Dienststelle gehöre.«
    Petrov zuckte zusammen und hörte mit dem Knabbern auf. Nun half sein verwunderter Ausdruck, ihn zu verbergen, so als sei er hinter einen Paravent getreten. Er steckte sich eine Zigarette an, durch deren bald aufsteigenden grauen Rauch seine Isoliertheit sich zur Unerträglichkeit steigerte.
    Â»Ich kann das

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