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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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nicht entscheiden, John Lennon. Hm … weiß nicht recht, muss erst mit Oberst Grigorov sprechen. Einerseits kommt mir dein Wunsch absurd vor, geradezu unmöglich, auf der anderen Seite … Bei so viel Perestrojka-Panik müssen wir schließlich für unsere treuen Freunde sorgen, wie?«
    Durch eine ironische Verbeugung Hamlets vor Ophelia wurde Christo aus seiner Erinnerung gerissen. Er sah, wie hinten auf der Bühne Ophelia, verstört und enttäuscht, ihrem Prinzen eine lange Nase drehte. So sollte diese Szene enden. Ein effektvoller Einfall Dessislavas, der überraschte wie eine Ohrfeige, fand Christo, vergleichbar der Empfindung, die er in Anwesenheit Major Petrovs und seiner wundersamen, bis zur Messerschärfe gesteigerten Isoliertheit hatte. Die Bühne erlosch. Christo hörte sein eigenes Klatschen, einsam und begeistert. Die Probe war beendet. Dessislava verschwand in die Garderobe, kam aber nach einigen Minuten zu ihm. Lächelte. Irgendwie traurig. Glich einem kleinen koketten Mädchen, das gerade gelogen hatte.
    Â»Dank dir, mein Bester«, sagte sie. »Wenn auf der Premiere alle so klatschen wie du, bricht das Theater zusammen.«
    Â»Das war großartig, Dess. Hamlet bekommt langsam Angst vor sich selber, und weil er nicht mehr weiß, wo sonst, versteckt er sich in seiner eigenen Schuld. Das war wirklich atemberaubend.«
    Â»Egal, was ich mache, du findest es doch von vornherein toll«, sagte sie grollend.
    Â»â€ºToll‹ ist gar kein Ausdruck; ich vergöttere deine widerborstigen Einfälle. Sollen wir gegenüber im Ungarischen Restaurant was trinken gehen?«
    Â»In letzter Zeit laden mich alle dorthin ein«, antwortete sie und lächelte.
    Gott, wie sie lächelte … Ihm blieb das Herz stehen.
2
    Im Ungarischen Restaurant war es erstaunlich leer und ruhig. Der Mittagstisch war längst vorüber, und die Zigeunermusiker, die abends aufspielten, waren noch nicht gekommen. Der Kellner war unfreundlich, und mit den Fettsäckchen unter seinen Augen sah er aus wie einer, der nach durchzechter Nacht gerade aus schwerem Schlaf mit einem noch schwereren Kater erwacht war. Christo bestellte ihnen je einen »kleinen« Wodka (was in Westeuropa einem doppelten entsprach) und einen bulgarischen Bauernsalat, anschließend zu den Lammkoteletts einen feurigen Rotwein aus Melnik vom Fass, der nach Süden duftete, nach bitteren Rosinen schmeckte und sofort zu Kopf stieg. Dessislava lächelte träumerisch. Gott, wie sie lächelte …
    Â»Sind plötzlich alle so großzügig mit mir«, sagte sie.
    Â»Weil du es verdienst. Und dabei bist du die Jüngste, das Nesthäkchen der Familie.«
    Â»Und du? Bist doch auch nur drei Jahre älter als ich und schon ein hohes Tier im Ministerium.«
    Â»Nur dass man mir das Alter ansieht, während du immer noch wie zwölf aussiehst … Ich seh dich noch vor mir, als wär es gestern. Wie Schneewittchen sahst du aus.«
    Â»Solche Erinnerungen vermiesen mir die Laune, und dann werde ich böse. Und wenn ich böse werde, werde ich gefräßig und durstig, und das kommt dich teuer zu stehen.«
    Christo spürte, dass er den Bogen überspannt hatte. Er flüchtete sich zu seinem Weinglas und spielte den Betrübten. Dieser sein niederschmetternder Trübsinn machte Minister Sdravkov fix und fertig, und je mehr und vergeblicher er versuchte, dessen Sinn zu ergründen, desto rasender machte ihn Christos Visage.
    Â»Weißt du, was ich bei den Proben die ganze Zeit dachte? Ob Hamlet vielleicht latent homosexuell ist.«
    Â»Was redest du da? Simeon hat mit ganz Prowadia geschlafen, mit halb Sofia und drei Viertel aller Schauspielaspirantinnen an der Akademie.«
    Â»Ich meine ja auch nicht diesen Sexprotz, sondern den Hamlet von Shakespeare.«
    Dessislava machte ein hübsches Nachdenkgesicht. Dafür tat sie nicht traurig wie Christo, sie war es wirklich.
    Â»Hamlet ist ein von Grund auf betrogener, verlassener und kranker Mann, und er ist ab sofort nicht von Shakespeare, sondern von mir.«
    Sie aßen gierig und mit dem Appetit von Menschen, die nach beschwerlicher Reise aus dem sechzehnten Jahrhundert zurückkehrten. Christo bestellte Kaffee und Garasch-Torte für Dessislava.
    Â»Bin dir wirklich dankbar, aber hör auf, dich zu jeder meiner Proben zu schleppen, sonst dreh ich noch durch.«
    Â»Ich komme ja nicht deinetwegen, sondern

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