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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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zusammengefunden, um von der Heldentat heute, im Hier und Jetzt, zu sprechen. – An dieser Stelle schaltet Sima das Interview mit Bai Dontscho, dem unfreiwilligen Helden, ein. Die Kamera fährt langsam über seine malträtierten Arme, seine geschwollenen Ellbogen. Wir hören dem Monteur mit steigendem, aber diffusem Interesse zu. Dann Kamera-Totale auf Jordan: »So an den Haaren herbeigezogen es auch klingen mag, verehrte Zuschauer, die Notwendigkeit der Heldentat, vor allem in Jahren des technologischen Fortschrittes – ist sie nicht dem Mangel an Organisation geschuldet? Der Genosse Dontscho Topalov hat seine bescheidene menschliche Pflicht erfüllt, war durch die Umstände gezwungen, sich zu opfern, weil der Strom ausfiel – was, anders ausgedrückt, bedeutet, dass jemand anderes seine Arbeit nicht gewissenhaft getan hat. Mag die Heldentat von individueller Größe zeugen; die Verantwortungslosigkeit, die darin besteht, das Funktionieren einer professionell ablaufenden Organisation zu stören, ist ein gesellschaftliches Verbrechen.« Dann, an die Tischrunde gewandt: »Hier haben wir das moralische Dilemma, auf das ich Sie bitten möchte, Ihre Ausführungen zu fokussieren …«
    Draußen war ein flauschiger, reinigender Schnee gefallen. Der Abend fiel so still und weiß herab, dass es ihn schmerzte. Neda war jetzt vermutlich dabei, die eindringlichen Analysen ihres Fakirs Grischa zu protokollieren, fiel ihm ein. »Die Tatsache, dass du keine Trauer empfunden hast, als deine Tante starb«, hörte er Grischas erfahrene, perfide Stimme sagen, »spricht dafür, dass du sie noch immer als lebend wahrnimmst. Das Objekt deines Anhimmelns ist fort, nicht aber deine Liebe! Aus diesem Grund sprichst du von ihr auch im Präsens, sagst in der Gegenwartsform, wie sehr sie dich liebt …« Die Gruppe seufzt glücklich auf; alle sind wieder vereint; auch der Tod dieser Tante konnte sie nicht trennen. Neda zieht ihr indisches Tuch enger um die Schultern und schaut voller Begeisterung auf Grischa. Es gibt nichts Gefährlicheres für die Frau als ihre bewältigte Frigidität; sie beginnt dann, sich wie ein unverwirklichter Mann zu fühlen.
    Â»Du bist schuld«, hatte Neda ihm, Jordan, in sonderbarem Erschrecken gesagt. Er wusste, dass er an allem schuld war, aber woran konkret?
    Er musste Sima anrufen. Er brauchte einen Piloten, der sich mit einem unzureichend reparierten Flugzeug in die Abgründe des Himmels gestürzt hatte.
19
    Nachdem sie gebadet war, wollte Jana »barfußen«, wie sie es von klein auf mit einem selbst erfundenen Verb ausdrückte. Sie mochte es, wenn der Teppich kitzelleicht ihre Fußsohlen stach. Neda hingegen ärgerte sich, weil das Kind nicht stillhielt, während sie versuchte, ihm die beiden Precious-Wilson-Zöpfe um das blasse Gesichtchen zu flechten. Diese niedlichen Zöpfe hatte sich Dessislava ausgedacht, die sich auch sonst um Janas Erscheinungsbild kümmerte. Sie hatte Neda und Jordan beschworen, ihrem Töchterchen nie Schleifen ins Haar zu binden und auf keinen Fall kurze, weiße Kleidchen anzuziehen. Seine Tochter trug also nur »lang« und sah in ihrer modernen Kleidung aus wie eine kleine Dame. Neda ärgerte sich auch deshalb so sehr, weil sie gerade dabei war, auf der Schreibmaschine ihre Eindrücke vom seelischen Veredlungsprozess der Therapiegruppe abzutippen. Danach würden beide ins Schlafzimmer gehen und eine Märchenschallplatte auflegen. Jana hatte heute Fernsehverbot, denn gleich nach dem Sandmännchen kam … ihr Papa auf den Bildschirm. Der Schallplattenspieler hingegen war so etwas wie eine moderne Erzähl-Oma. Das war weder der erste noch der letzte Widerspruch Nedas, doch – dachte Jordan – der Einheit und dem Kampf der Gegensätze entspringt die Ganzheit.
    Er war ja auch nicht weniger nervös und gereizt als sie. Gerade suchte er seine Autoschlüssel. Jeden Augenblick konnte er in Panik ausbrechen und seine unterdrückte Eifersucht hinausschreien. Deren einziges Symptom, außer dem Gefühl, dass er sich beeilen müsse, weil er schon wieder Gefahr laufe, zu spät zu kommen, bestand in der ständigen Angst, etwas zu verlieren. Wenn er zu einer Dienstreise aufbrach, prüfte er so lange, ob er auch seinen Pass eingesteckt hatte, bis er ihn irgendwo liegenließ. Seine Honoraranweisungen steckten beispielsweise in der Bibliothek

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