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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Vögel hätten auf den Gardinenstangen, den Stuhllehnen und dem Vitrinenschrank gehockt, und seien dann wieder in ihr wahres Leben zurückgekehrt, in den Garten auf der anderen Seite des Spiegels nämlich mit seinen blühenden Bäumen.
    Beim Erzählen hatte Dessislava das Gefühl, nie zuvor so überzeugend gewesen zu sein, ja, sie war sogar sicher, dass ihr das, was sie da erzählte, wirklich passiert war. Sie konnte sich genau an die ausgefranste Jacke des Alten erinnern, über der das Kettchen seiner Taschenuhr baumelte, auf der die Zeit stehengeblieben war; sie hatte noch den Geruch nach Kampfer und schwachem Betäubungsmittel in der Nase, sah das Lächeln des Alten vor sich, das leuchtete wie das eines verrückten Sonderlings oder eines Menschen, der alles wusste. Seine Hände waren weiß und schön gewesen, und auf seinen Handflächen lagen Krümel aus Brot und Freiheit. Die Vögel seien munter um sie herumgeflattert.
    Â»Dann hat der alte Mann den Spiegel zugemacht …«
    Â» Was hat er zugemacht?«
    Â»Na, den Spiegel«, stampfte Dessislava trotzig mit dem Fuß auf. »Und da hat er ganz klein ausgesehen mit seinen feuchten Augen. Krank war er nicht, und auch nicht voll Kummer wie einer, der all sein Geld verloren hat, sondern bloß verlassen halt von seinen ganzen schönen Vögeln …«
    Ihrer Mutter stand das Leid ins Gesicht geschrieben, und sieh an: Jetzt weinte sie sogar! Ihre Tochter war ihr am Ende doch mehr wert als diese verdammten eintausendvierhundert Leva. Zum ersten Mal spielte ihre Mutter keine Rolle, sondern sah genauso verlassen aus wie der Alte, den sie sich ausgedacht hatte, verunsichert und hässlich. Ihr Vater entzündete nervös eine Zigarette, streichelte ihr übers Haar und sagte:
    Â»Quäl dich nicht, Dess! Wenn du so verletzend und schön lügst, dann kannst du so klein ja nicht mehr sein, sondern bist schon ein richtig großes Mädchen!«
    Da begann sie auf einmal, ihren Vater wirklich zu lieben, ohne Pomp und Tralala, einfach so und für immer, genauso wie ihr Bruder Jordan einsam und traurig nur sich selbst liebte.
    Jonka kam zuletzt zu ihr, fasste sie am Arm und ging mit ihr ins Bad, steckte sie in die Wanne und wusch ihr langsam und sorgfältig die ganze Müdigkeit dieses aufreibenden Tages ab, die Angst und den Schmutz der Lüge. Dessislavas Lügennetz war gewebt aus Geheimnis und Zauber, und vielleicht hatte genau das sie beruhigt. Das Wasser wurde weiß von der Kernseife, der Schaum barg sie zart wie ein Spitzendeckchen. Jonka schwieg. Schließlich wickelte sie Dessislava in ein Frotteehandtuch, das so weich war wie die Verträumtheit, und sagte ihr etwas wahnsinnig Wichtiges. Es war so einfach und transparent wie die Luft, und sie war sicher, wenn es ihr gelänge, es zu behalten, würde sie das Lügen augenblicklich zu hassen beginnen. Doch dem Unergründlichen, das sich irgendwo in den Tiefen des Dreiecks aus Schicksal, Unterbewusstsein und Gefühl aufhält, kann man keine Befehle erteilen.
8
    Jemand schloss die Wohnungstür auf. Dessislava zuckte zusammen. Es war sicher ihre Mutter, die von ihrer Freundin zurückkam. Viktoria Simeonova hatte ihr versprochen, sie zu einer Wahrsagerin zu bringen, die aus den Dörfern um Samokov herum stammte, ein blaues und ein braunes Auge hatte und mit Wachs- und Bleigießen arbeitete. Sie goss das schillernde Metall in eine Schüssel mit Wasser, anschließend deutete sie aus dessen Formen und Vertiefungen, auf die Licht und Schatten fielen, die Zukunft der menschlichen Seele. Das Theater hatte Dessislavas Mutter eigentlich gelehrt, an nichts zu glauben; doch seltsamerweise waren genau solche Menschen hilflos vor dem Magischen und Geheimnisvollen. Genau wie ich auch, sagte sie sich. Schauspieler sind wie Kinder!
    Dessislava ließ sich in den Sessel fallen, schaltete das Tischlämpchen ein und vertiefte sich in eine Literaturzeitschrift. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Jemandes Schritte nötigten sie, den Kopf zu heben. Ihr Vater. Aristokratisch ergraut und mit seiner aus der Mode gekommenen Haltung glich er dem Alten mit den Vögeln. Ein müdes Lächeln lag auf seinem Gesicht, so als bäte er sie, Nachsicht mit ihm zu haben und ihm in den Zauberspiegel zu folgen. In seinen Händen vermeinte sie sogar die Krümel aus Brot und Freiheit zu sehen.
    Â»Hast du schon zu Abend gegessen?«,

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