Seelenasche
Vorstellung, und auch sonst erwartete sie nichts. Ich muss mich wohl ans Alleinsein gewöhnen!, dachte sie voller Schadenfreude an die eigene Adresse. Ja, da war ein Drang in ihr, sich selbst zu erniedrigen. Sie betrat das nächstbeste Café. Im »Jalta« roch es nach abgestandenem Zigarettenqualm, frisch gemahlenem Kaffee und verschüttetem Wein, von überall her sprang es sie plüschrot an, selbst der Kellner trug eine rote Weste. Sie bestellte sich einen groÃen Wodka-Tonic und kippte ihn in einem Zug weg. Der Alkohol wärmte sie, sie konnte wieder netter über sich denken, ihr Kopf klärte sich. Ich werdâ mich einfach betrinken, dachte sie und bestellte sich noch einmal dasselbe. Sie kam sich vor wie eine alt gewordene Frau, die allein an einem Tisch saÃ. Aus der benachbarten Sitzecke hörte sie Kichern. Die Stimmen dieser Jugendlichen, die die Pubertät gnadenlos zu Idioten machte, erleichterten sie halb, und halb erschreckten sie sie.
Ihr ging durch den Kopf, dass Assen, so eigenbrötlerisch er auch war, niemals allein sein würde: Im Moment befand er sich zum Beispiel in der schwierigen und unbeständigen Gesellschaft der Staatstheorie. Ihre Tochter hatte ihr Abendkleid in Streifen geschnitten und war mit diesem Sim verschwunden, einem Hallodri von teuflisch gutem Aussehen. Jordan spielte um diese Zeit Tennis, wie jeden Sonntagnachmittag. Das Tennisspielen gehörte zu seinem Status als berühmter Fernsehmoderator. Er war stolz auf seine Rückhand und sprach von Björn Borg und John McEnroe, als träfe er sich jede Woche mit ihnen zum Abendessen. Ja, auf gemeine Weise lieÃen alle sie allein.
Vom dritten Wodka-Tonic an tat ihr der Kopf weh; genau genommen war es ihre Angst, die unerträglich wurde. Theo Sotirov wollte im Volkstheater Brechts Mutter Courage neu auf die Bühne bringen. Seine frühere Inszenierung war ein kompletter Reinfall gewesen. Für die Rolle der couragierten Marketenderin war natürlich wieder die »im Leben unansehnliche, aber auf der Bühne göttliche« Margarita Lilova vorgesehen. Der Neid ergriff sie wie ein Ohrwurm und verdarb ihr die Laune vollends. Sie hatte das Gefühl, sich bei den Wodka-Tonics irgendwie verzählt zu haben.
DreiÃig Jahre war es nun her, seit Sotirov sie ins Büro des Theaterdirektors gerufen und ihr ihre erste Spielfilmrolle angeboten hatte. Die Möbel drinnen waren getränkt von feuchtem Zigarettenrauch gewesen, der ganze Raum hatte die schwere Ausdünstung eines heruntergekommenen Puffs gehabt. Die altmodischen Kerzenleuchter und der dunkel gewordene Spiegel wirkten irreal; das barock verzierte Regal ertrank in Staub. Emilia war im zweiten Monat schwanger gewesen und trotzdem auÃer sich vor Begeisterung. Wie sich herausstellte, war die Hauptrolle auch da für Margarita Lilova reserviert gewesen. Hässlich, aber von Gott mit Begabung geradezu überhäuft, verlor die Lilova nichts, während sie ihr erstes Kind abtreiben lassen musste, um im Film mitspielen zu können. Nein, es gab keine Gerechtigkeit auf Erden! »Das Schlimme, Kindchen, ist, dass ich nichts von Kino verstehe«, hatte Sotirov damals geseufzt. »Wenn der Film einschlägt, werden sie mich ans Volkstheater berufen, ins Warme. Dann werde ich in dies vermaledeite Büro kommen, mir mein Sakko schnappen, Margarita Lilova und dich ⦠Der Rest von diesem ganzen Krempel kann mir gestohlen bleiben. Na komm, nimm die Mappe und verschwinde, wir filmen im Sommer.«
Genau im Sommer war der errechnete Geburtstermin für Emilia gewesen.
»Das ist hier keine Entbindungsstation, sondern ein Theater«, hatte Theo sich aufgespielt. »Und ich bin kein Gynäkologe, sondern Regisseur â¦Â«
Und er hatte sein Versprechen gehalten, hatte Margarita und sie unter die Pracht des hohen Kuppeldaches mitgenommen, sie auf die riesige Bühne gestellt, übergossen von Licht und Magie. Die göttliche Hässlichkeit der Lilova leuchtete, überschattete die elegante Schönheit Emilias. Oh, wie sie das Charisma dieser bescheidenen und auÃerhalb des Theaters so unauffälligen Graugans ärgerte! Sie hasste sie von den Vorproben am Tisch bis zu den Momenten, wo sie ihr bei der Aufführung einen Stuhl reichen musste; sie hasste sie, wenn sie ihr nach einer Premiere begeistert applaudieren und ihr den Blumenstrauà in ihre kahle Garderobe bringen musste. Dort, ihrer Rolle entkleidet,
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