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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Durchgang zum ersten Treppenhaus. Diese Nummer hatte sie mit einer ganzen Reihe von Männern abgezogen, wohl wissend, dass sie das Mietshaus durch den Hinterausgang und über den Hof wieder verlassen konnte. Die Stille in der Passage war samten und lebendig; die phosphoreszierenden Augen einer herrenlosen Katze erschreckten sie. Sie eilte hinaus auf den Tolbuchin-Boulevard. In der Ferne sah sie im Nebel, klein und diffus, die einsame Figur Hamlets von einem Bein aufs andere treten. Er würde da stehen bleiben, bis er durchgefroren war. Die Erwartung trennt unwiderruflich wie eine durchgeschnittene Frucht. »Herrgott, wie gern würde ich diesen Schlunz da hinten lieben«, murmelte sie voller Grausen, »aber ich kann einfach nicht. Bobby hat recht, irgendwie bin ich wirklich eine Nutte!« Sie ertappte sich dabei, wie sie weinte. Na, jedenfalls waren sie feucht, klebrig und kalt, ihre Augen.
6
    Der Winterhimmel glich dem alten Regenmantel ihres Vaters – grau, zerfranst und abgenutzt. Es war derart neblig, dass es überflüssig war, zum Umkleiden eigens die Vorhänge zuzuziehen. Warum aber wechselt der Mensch die Kleidung, wenn nicht aus einem bestimmten Anlass, oder weil er irgendwo hinmöchte? Sie aber war allein zu Hause und drehte seit zwei Stunden nervös Kreise im Wohnzimmer. Dabei wusste sie doch, dass Evtimov sich nicht melden würde, denn heute war Familientag.
    Uns nährt die Hoffnung … Allein diese Sentenz bewies doch, wie sinnlos Weisheiten waren. Die Zeit hatte sich dem nebligen Wetter angepasst und schlich voran wie ein Nahverkehrszug, der an jedem Bahnhof hielt. Dieser Sonntag war zum Verrücktwerden endlos. Da konnte sie auch den Pullover aus Naturwolle für Evtimov zu Ende stricken, obwohl die große Frage war, wie sie ihm den schenken sollte. Dies Geschenk käme einer Beihilfe zum Mord gleich, denn Evtimovs Frau würde Amok laufen und ihren Göttergatten damit ersticken. Mit ihrer fein gelockten Kurzhaarfrisur und ihrer getönten Haut glich sie im Dunkeln einem weiblichen Othello. Im Hellen eigentlich auch. Zu was für schreienden Paradoxien führte doch die Emanzipation! Immerhin tröstete sie der Gedanke, dass bei Evtimov nichts an Desdemona erinnerte.
    Horror! Nun klingelte auch noch das Telefon! Nein, das war keine akustische Halluzination, es schrillte beharrlich weiter. Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen, aber von der abgestandenen Zimmerluft wurde ihr nur schwindlig. Sie hob den Hörer ab, schwieg. Sie musste jetzt den Mund halten, da sie befürchtete, sonst loszubrüllen.
    Â»Hallo, Dess«, sagte eine rauhe, aber zarte Stimme, Simeons Stimme. »Glaub mir, ich will nicht mit dir schlafen. Ich …« Niemand auf dieser kaputten Welt wagte mehr das peinliche Wort »lieben« in der ersten Person Singular auszusprechen. »Ich wollte dir vorschlagen, dass wir heiraten!«
    Â»Großartige Idee, mein Herzchen«, erwiderte sie, ohne ihre Enttäuschung zu verbergen, »aber lass uns erst warten, bis meine Eltern geschieden sind und ich dem allgewaltigen Sotirov mein Diplom abgerungen habe … Danach, keine Frage, heiraten wir sofort.«
    Â»Versteh mich recht, Dess, ich mach dir keinen Vorwurf, dass du mich zwei Stunden wie ’nen Deppen hast in der Kälte stehen lassen, und ich bin dir auch nicht böse wegen der Angina, die ich mir dabei eingefangen hab; ich hasse dich nicht mal wegen des konfusen Gelabers, das du dir bei Bobby von mir anhören musstest. Ich war einfach nüchtern und wie vor den Kopf geschlagen. Aber du benimmst dich auch wie …«
    Dessislava knallte den Hörer auf die Gabel, denn sie wusste schon, dass er nur Bobbys Ausdruck wiederholen würde: »… wie eine richtige Nutte!«
    Es war trotzdem spaßig, sich umzuziehen: statt der Cordhosen ein langes Ausgehkleid, statt der sauren Miene ein glückliches Lächeln. Evtimov und seine Frau hatten vermutlich die geschlossene Vorführung von Tarkowskijs Stalker im Haus des Kinos gesehen und fuhren jetzt romantisch aneinandergekuschelt mit der Straßenbahnlinie 2 nach Hause. Ihre Wohnung befand sich unter dem ehemaligen Priesterseminar, das von den Kommunisten zum Pionierpalast umgewidmet worden war. Ihr Wohnzimmerfenster ging auf den nahen Wald, ihre Möbel waren leicht und aus hellem Holz. Es roch nach gereizter, eifersüchtiger und von Untreue bedrohter Frau. Von der Decke hingen Lampen so tief herab,

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