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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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dass man die ganze Zeit aufpassen musste, sich an ihnen nicht den Kopf zu stoßen. Der Raum war aufgeteilt in lauter Ecken und Nischen, mit Gipsstufen und -ablagen voller Krimskrams. Evtimovs Frau war Innenarchitektin. Ihre drei Kinder und die Katze durften diese heiligen Hallen nicht betreten, damit sie diese ausgeklügelte gestalterische Lösung eines häuslichen Raumproblems nicht aus dem Gleichgewicht brachten. Die Wände, ebenfalls durch Stufen aufgelockert, waren in asketischem Weiß gehalten. Evtimovs Wohnung glich, mit einem Wort, einem Andachtsraum, in dem alles verboten war außer meditativer Betrachtung oder Abwesenheit. Wie sollte man da nicht auf unanständige Gedanken kommen?
    Das Telefon schnarrte wie eine Wespe, aber sie wusste, das konnte nur Simeon sein. Wenn sie jetzt abhob, würde er ihr zwar keine Vorhaltungen machen, aber er würde auf irgendeine hinterhältige Weise fortfahren, ihr Schuldgefühle zu machen, und inzwischen sogar begründet, denn sie hatte sich wirklich verhalten wie sein Vater in der Geschichte mit den Rosen. Nur dass Dessislava nicht absichtlich mit dem Ziegelstein ihrer Gleichgültigkeit sein Herz hatte treffen wollen. Aber was sollte sie machen? Schuldgefühle lösten bei ihr unweigerlich den Zwang aus, zu lügen! Nur … so unglücklich und einsam sie auch war, sosehr sie sich auch umzog: Sich selbst konnte sie nicht belügen.
7
    Beim ersten Mal tat sie es, ohne zu wissen, warum, und ohne zu ahnen, dass es sich in eine Angewohnheit, einen Reflex verwandeln sollte. Als Kind war sie wohl hypersensibel gewesen, und die Überzeugung der Erwachsenen, dass sie in unbändiger Sturheit klein blieb und nichts verstand, beunruhigte sie zutiefst. Die Großen hatten es, getrieben von ihren Sorgen, permanent eilig. Sie gaben sich vernünftig und zielstrebig, waren intelligent und erfolgreich und hatten immer nur für flüchtige Küsse Zeit. Um ihr Gewissen reinzuwaschen, kauften sie ihr Spielsachen und redeten übertrieben zärtlich mit ihr. Hatte sie denn eine Wahl? Was blieb ihr denn übrig, als etwas Schlimmes, ihr an sich vollkommen Wesensfremdes zu tun, um einmal mehr als nur flüchtig bemerkt zu werden? Hinzu kam, dass sie ihre Mutter beim Wort nahm, die ihr eingeschärft hatte, dass es unartig war, anderen Menschen (in der Öffentlichkeit) die Wahrheit zu sagen, da sie in der Regel jene hässlichen und unwürdigen Seiten des Lebens betraf, die alle tunlichst unter den Teppich kehrten. Dabei sehnte Dessi sich nach nichts mehr, als ihren Empfindungen vertrauen zu dürfen, die ihr ständig meldeten, dass die Welt eben nicht nur aus Höflichkeit und zur Schau gestelltem Erfolg bestand, sondern auch aus höchst unhöflichen Gedanken, Misserfolgen und Wunden, die die Menschen gekränkt leckten.
    Sie tat es genau in dem Moment zum ersten Mal, in dem ihre Mutter ganze eintausendvierhundert Leva in irgendeinem Taxi verloren hatte. Sicher, das war damals unerhört viel Geld, aber musste ihre Mutter denn deswegen gleich sooo schlimm weinen und sooo erschüttert sein? Da beschloss Dessislava, auch verlorenzugehen, wie ein Portemonnaie mit viel Geld drin! Sie kramte den Schlüssel zum Dachboden aus der Schublade und verbrachte dort, inmitten des Durcheinanders aus verstaubten Erinnerungen und achtlos hingeworfenem Hausrat, inmitten fleißig an den Fäden der Stille webenden Spinnen und dem dünnen Licht, das durch die schmutzige Luke drang, den ganzen Nachmittag. Sie kehrte in die elterliche Wohnung zurück, als es schon dunkel war, stumm vor Angst, Schuldgefühl und heimlichem Glück.
    Â»Wo warst du, Dess? Wir sind fast verrückt geworden vor Sorge!«
    Ihre Mutter und ihr Vater hatten bei sämtlichen Nachbarn geschellt, die umliegenden Grünflächen und Spielplätze abgesucht, bei der Volksmiliz und in sämtlichen Krankenhäusern angerufen. Jonka hatte vermutlich etwas geahnt. Sie saß unter dem schweigenden Rücken der Bibliothek und vertiefte sich in das magische Halbdunkel hinter dem Fenster.
    Dessislava erzählte ihnen, sie habe im Hof gespielt, und da sei ein alter Mann mit tränenden Augen gekommen, der Vögel hielte – Amseln und Stare, Kanarienvögel und einen sprechenden Papagei, der Coco hieße. In seinem Wohnzimmer habe ein gewaltiger Spiegel gehangen, in dem aber nicht die gegenüberliegende Wand zu sehen war, sondern ein endloser Garten. Die

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