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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Mann. Er war still und unauffällig wie eine Ameise, lernte, Bastkörbe zu flechten, und half den Schwestern. Einmal kam er zu mir und bat mich inständig, seine Frau nicht in die Klinik zu lassen; er hatte völlig vergessen, dass er sie mit der Axt ermordet hatte. Ein Jahr später wurde ich nach Sofia versetzt. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.«
    Von charmanter Kurzsichtigkeit, standen die Augen Grischas ähnlich heraus wie bei Picasso; er glich einem Nachtvogel damit. Seine grenzenlose Ruhe ermüdete. Sein Blick bewegte sich langsam, konzentrierte sich auf einen nahen Gegenstand und tränkte ihn mit blinder Betrachtung. Nie hatte Jordan ihn mit Brille gesehen. Offensichtlich glaubte Grischa, dass das wahre Wesen der Dinge im Trüben, Verwaschenen, Unbestimmten lag. Jordan fühlte, dass Grischa nur für Neda sprach.
    Â»Das, was wir an einem Menschen sehen, ist nur ein Teil seiner Persönlichkeit. Unsere Psyche ähnelt einem Eisberg. Die sichtbare Spitze, das Ich, macht vielleicht ein Viertel aus, der Rest liegt in der Finsternis des Unbewussten. Um mit der Wirklichkeit fertigzuwerden, passt das Ich sich an, adaptiert sich. Es ist vor allem starken Schamgefühlen unterworfen, und das ist einer der Gründe, warum es sich von der Freiheit lossagt. Das Unbewusste hingegen ist schamlos wie die Natur, es widersetzt sich der Wirklichkeit, indem es rücksichtslos über sie hinwegtrampelt und sich die Freiheit einfach nimmt. Ich bin überzeugt, dass jeder von uns das ist, was wir normal nennen, aber ebenfalls einen unterdrückten Irrsinn in sich trägt, den er nicht rauslässt.«
    Â»Jeder von uns ist Teil der Freiheit«, sagte Neda wie ein Echo.
    Grischa beugte sich vor, nahm ihren vollen Becher und umschloss ihn mit seinen Handflächen. Das Blechgefäß blitzte wie eine Klinge in seinen warmen, fürsorglichen Händen. Dann reichte er Neda den Becher, die ihn augenblicklich austrank. Dies war nicht Ausdruck von Aufmerksamkeit, nicht ein Kompliment an die Ehefrau eines anderen, es war noch nicht einmal ein Versuch zu flirten. Nein, Grischa verhielt sich zu Neda wie zu einem Patienten! Wenn auch irgendwie lau, war die Liebe zwischen ihnen voll ausgereift, weil sie auf gegenseitigem Vertrauen beruhte. In den Gruppensitzungen des Psychiaters erzählten alle ja pausenlos von sich selbst, vergegenwärtigten sich im Erinnern, bemerkten ihre eigenen Vorzüge und stellten das verlorene Ich wieder her. Mit seiner magischen Geduld riss Grischa die Barrieren zwischen Bewusstsein und Gemüt ein, zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Illusion und Ziel, und »die Zwölfe wurden eine Einheit«. Grischa und Neda waren verbunden durch fremde Schamlosigkeit, durch penetrante Aufrichtigkeit; darum war das Vertrauen zwischen ihnen so unverletzlich, ihre Liebe so leidenschaftslos, aber auch unheilbar. Nur eins verstand Jordan nicht, und er fragte sich verbittert, ob Neda selbst es so gewollt hatte: dass dieser Typ sie in eine Patientin verwandelte. Zum Teufel nochmal, seine Frau war doch vollkommen normal!
    Die funkelnde Weiße der Landschaft ringsum hatte nun aufgehört, Jordan glücklich zu machen. Die Bergrücken und Täler des Gebirges erschienen ihm nun so fremd und verlassen wie ein Bett, in dem jemand Unbekanntes genächtigt hatte. Die raffinierte Gleichgültigkeit Andreas machte ihn wütend. Sie war von geradezu beleidigender Teilnahmslosigkeit und zwang ihn dadurch, sich bös und einsam vorzukommen. Alle waren ja sooo gut und sooo ruhig, saßen brav im schönen Schoß der Ewigkeit … nur er hatte die Krallen ausgefahren und verkörperte die niedrigen Leidenschaften, als da waren Eitelkeit und Rachsucht. Andrea dachte wohl, ihr Herzblatt gehe nun einmal mit Leib und Seele in seinem Beruf auf und »arbeite« selbst bei einem solchen Ausflug ins Gebirge. Sie hätte ebenfalls etwas spielen können, aber in der Wetterstation stand kein Klavier.
    Jordan steckte sich eine Zigarette an, um aus Rache wenigstens die reine Luft in seinen Lungen zu verpesten. Der wohlriechende Tee weckte seinen Widerwillen. Warum nur hatte er sich hierhin mitschleppen lassen, warum hatte er freiwillig die Rüstung seiner Berühmtheit abgelegt? Grischa, dieser Schlaukopf, hatte fallenlassen, Jordans »Gruppe« bestehe aus halb Bulgarien, folglich sei infolge der Übertragung die halbe Nation bis zum Überdruss in ihn verliebt.

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