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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Seit einer halben Stunde glotzte er schon mit idiotischer Beharrlichkeit auf eine Abbildung der exotischen Unterwasserwelt des Great Barrier Reef vor Australien, die durch einen Schwarm flacher, ovaler Fische von schillernder Buntheit regelrecht gesprengt wurde. Irgendwie war er heute in schlechter Stimmung, zerstreut, bedrückt und böswillig. Etwas im Verhalten und in den Worten Nedas hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, das schützende Selbstbewusstsein des erfolgreichen Mannes angekratzt, der sich dazu herabgelassen hatte, seinen freien Sonntag im Gebirge zu verbringen, unter dem erhabenen Hauch der Ewigkeit und in Gesellschaft eines kurzsichtigen Psychiaters. Grischa war es nicht nur gelungen, ihn zu kränken, sondern er hatte ihm auch seine Überlegenheit demonstriert, ihn verletzt und seine Berühmtheit abgestraft. Er versuchte, sich von dem Wort »verletzt« zu befreien, das sich so hartnäckig in seinem Bewusstsein eingenistet hatte; aber wenn er es zu schnappen versuchte, wich es zurück wie ein Hund, der von seinem Herrchen mit der Leine geschlagen wurde, und kehrte danach unbeirrt wieder zurück. Er versuchte es mit Selbstironie: Was glaubte dieses dumpfe Gebirge eigentlich, wer es war mit seinem Schnee, seiner Sonne und seiner Erhabenheit? Pah! Das war doch ein Klacks gegen den Gipfel des Erfolgs, auf den er locker lächelnd die Spotlights der Aufklärung richtete? Wer sollte ihn denn verletzen? Auf einmal erinnerte er sich – und taumelte. Die Antwort war schon in der Frage enthalten, genauer gesagt, in dem dramatischen Erlebnis an jenem Abend, den er zu vergessen gehofft hatte.
    Es war vor anderthalb Jahren passiert, an einem heißen, trockenen Sommertag. Er hatte eine schwere Aufzeichnung zum Thema »Globale Erwärmung und ökologische Krise« hinter sich und wie üblich sein Team zu einem Umtrunk ins stimmungsvolle Restaurant Unter den Linden eingeladen. Es ging auf achtzehn Uhr zu, doch die Sonne war immer noch stark. Fast bissig schleuderte sie ihre Glut auf die Erde. Auch das schwer geprüfte Grün des Parks schaffte keine Abkühlung. Auf der Gartenterrasse vor dem Lokal war außer dem ihren nur ein Tisch besetzt. Zehn stämmige Männer mit kantigen Gesichtern und bis zum Bauchnabel aufgeknöpften Hemden, verschwitzt und vom Alkohol in gute Laune versetzt, saßen da und sprachen so lautstark miteinander, als sei Reden eine Art Holzhacken. Vor ihnen standen schon ein Dutzend leerer Flaschen polnischen Zubrovka-Wodkas, zu dem sie Hartsalami und bulgarischen Bauernsalat aßen. Als sie ihn erkannten, verstummten sie für einen Augenblick, so als hätten sie einen Schlag vor den Kopf bekommen, dann begannen sie, sich raunend etwas zuzuflüstern, und riefen schließlich den Kellner. Sie hatten in ihrem Suff wohl beschlossen, den berühmten Leuten vom Fernsehen, mit denen Ort und Stunde zu teilen sie die Ehre hatten, einen auszugeben. Der Kellner trug im Stile des Lokals eine Trachtenweste und hatte ein besticktes Tuch über seinen Unterarm gelegt. Dem trinkfreudigen Dutzend schenkte er keine Beachtung. Die Männer waren schon so betrunken, dass er ohnehin bei ihnen abrechnen konnte, was er wollte, und so folgte er nicht ihrem Ruf, sondern wandte sich erst an Jordans Tisch.
    Â»Aber ich bitte Sie, Genosse Weltschev, kommen Sie doch hier in den Schatten«, tänzelte er. »Gleich wird auch ein kühlendes Lüftchen aufkommen. Womit kann ich Ihnen dienen, Genosse Weltschev?« Er war sichtlich geschmeichelt, nahm die Tischdecke, schüttelte sie aus und wendete sie auf ihre saubere Seite. Dann nahm er die Bestellung auf und führte sie rasch aus. Die Männer vom Nebentisch warteten immer noch, aber sie grinsten nicht mehr. Ihr Versuch, einen Liebling der Nation zu überraschen und sich bei ihm bemerkbar zu machen, war kläglich fehlgeschlagen und es schien, als überlaufe sie trotz der Hitze ein Frösteln. Auf einmal spürten sie, dass sie zu unbedeutend waren, um mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht zu werden, und das kränkte sie wohl. Stark, laut, verschwitzt – ganze Kerle waren sie, und wurden – na, wo gibt’s denn so was? – übersehen … Der Stärkste unter ihnen haute mit der flachen Hand auf den Tisch. Das tat er einige Male, um Jordan seine Dienstfertigkeit zu bekunden, aber der Kellner fuhr sie nur an: »Zwölf Flaschen habt ihr schon kleingekriegt, nun geduldet

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